Mira und das Buch der Drachen (German Edition)
gesagt hatte, war ihr rechtes Auge zerstört. Der Verlust machte ihr Gesicht aber nicht weniger anziehend. Sie sah damit eher interessanter aus, fand Mira. Vor Aufregung hätte sie am liebsten einen Luftsprung gemacht.
»Ich muss noch was erledigen! Ich bin gleich wieder da!«
»Was hast du denn?«, fragte Rabeus verblüfft.
»Ich ... ich habe noch etwas vergessen!«, rief Mira, eilte den Gang entlang und ließ Rabeus zurück, der sich schnell eine Heuschrecke in den Mund stopfte, bevor er kopfschüttelnd weiterging.
Nachdem Mira eilig durch den Säulengang gelaufen war, kam sie über den Trampelpfad wieder in den verschneiten Garten. Hier hatte sich in den letzten Stunden nichts verändert. Der Elefant, die Schildkröte und das Monster mit dem weit aufgerissenen Maul harrten ihrer Zukunft unter den glitzernden Schneewehen.
»Zwerg!«, rief Mira aufgeregt und stapfte zum Tor. »Ich habe gute Nachrichten. »Hörst du! Sehr gute Nachrichten!«
Atemlos kam Mira bei dem Zwerg zum Stehen. Er befand sich immer noch neben dem Gittertor unter der großen Sonne, ganz in Hippolyts Decken eingemummelt. Der fallende Schnee hatte seinen Kopf mit einer kleinen weißen Mütze überzogen.
»Ich kann verstehen, dass du nicht mit mir sprechen willst«, begann Mira. »Ich weiß, ich habe mein Versprechen bisher nicht eingehalten, aber ...«
»Du musst kein schlechtes Gewissen haben, dass du mich über das ganze Feiern einfach vergessen hast«, unterbrach sieder Zwerg mit weinerlicher Stimme. »Das ist normal. Schließlich bin ich nur ein kleiner Gartenzwerg.«
Mira biss sich auf die Lippe.
»Ich verstehe auch, dass du nicht mehr gerne hinausgehen wolltest. Es ist sicher schön warm in dem Haus!« Der Zwerg hustete. »Weißt du, diese Kälte ist auch für uns Steinfiguren nicht gut. Man bekommt Sprünge!«
Mira starrte den Zwerg an. Hatte er nicht verstanden, was sie ihm zugerufen hatte?
»Und diese Musik«, sagte der Zwerg. »Seit Stunden höre ich diese Musik. Sie klingt schön, aber auch schrecklich.«
»Erst hat sie ein Automat gespielt«, sagte Mira. »Aber er ist nach dem Tod der schwarzen Hexe kaputtgegangen.«
»Die schwarze Hexe ist tot?«, fragte der Zwerg. Mira nickte.
»Wie schön für euch!«, murmelte der Zwerg.
Mira bückte sich und sah den Zwerg eindringlich an.
»Hör zu! Drinnen wartet die Meerjungfrau auf dich. Ich habe sie gefunden. Sie ist über einem Rundbogen!«
»Aha«, sagte der Zwerg. Dann schwieg er.
»Freust du dich denn nicht?«, fragte Mira verwirrt
Der Zwerg sagte nichts.
»Ich nehme dich jetzt mit, und ihr seid für immer vereint!«, schlug Mira vor.
»Ich glaube, ich bleibe lieber hier«, erklärte der Zwerg schließlich leise. »Lass mich einfach hier stehen.«
»Du willst nicht mitkommen?«, fragte Mira fassungslos. »Willst du sie nicht sehen?«
Der Zwerg schüttelte traurig den Kopf.
»Neben der Meerjungfrau ist eine Säule. Sie ist trocken und warm. Du könntest für immer dort stehen bleiben. Sie ist wie für dich geschaffen!«
Der Zwerg seufzte, aber er sprach nicht.
»Warum in aller Welt willst du nicht mitkommen?«, fragte Mira verzweifelt.
»Schau mich an!«, sagte der Zwerg. »Sieh nur, wie ich aussehe! Najade hat sich in einen gut aussehenden Zwerg mit einer wertvollen Laterne verliebt. Aber nun? Meine Mütze ist abgebrochen, mein Arm abgesplittert, von der Laterne existiert nur noch eine halbe Kerze und durch meinen Körper geht ein großer Riss. Was sollte sie noch an mir finden?«
Mira sah den Zwerg lange an.
»Ich bin kaputt!«, sagte er. »Ich werde schneller zerbröckeln als eine Gipsfigur. Und dann? Najade wird sich von mir abwenden. Sie wird so tun, als würde sie mich nicht kennen. Und dann werde ich vor Verzweiflung in Stücke springen. Nein! Erspar mir diese Demütigung!«
»Das ist es, wovor du dich fürchtest?«, fragte Mira.
Der Zwerg nickte düster.
»Lass mich hier stehen! Ich werde einfrieren und im Frühjahr wieder auftauen. Vielleicht schiebt sich dann ein Krokus unter mir hoch und spaltet mich in zwei Hälften. Das wäre nicht schlecht, denn dann ist es endlich vorbei mit meinem kurzen Leben.«
»Mhmm«, sagte Mira. »Ich glaube, dass Najade dich trotzdem lieben wird.«
»Das denkst du nur, weil du die Welt nicht kennst«, sagte der Zwerg.
Mira betrachtete die Steinfigur lange. »Es tut mir leid, aber ich habe ein Versprechen zu erfüllen!«, sagte sie leise, hob den Zwerg aus dem Schnee und ging mit ihm durch das Tor.
»Was machst du
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