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Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Titel: Mirad 01 - Das gespiegelte Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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über das zerdrückte Kopfkissen, das zerknitterte Laken und die zerknautschte Wolldecke. Keine Frage, hier musste einer ziemlich schlecht geschlafen haben. Möglicherweise hatte das Krodibo ja seine Pflicht vernachlässigt und der Ärmste war von furchtbaren Alpträumen geplagt worden. Vielleicht stand er sogar mitten in der Nacht auf, um im Wald draußen für seine rastlose Seele Frieden zu finden. Oder hatte ihn jemand gerufen?

3
DER SILBERNE DORN
     
     
     
    In den zurückliegenden sechs Jahren hatte sich Ergil oft gefragt, was sein Ziehvater vor ihm verbarg. Gleich einer Wolke schwebte dieses Geheimnis über der Waldhütte und überschattete seine Kindheit. Jedenfalls fühlte der Zwölfjährige bisweilen so. Tatsächli c h gab es für ihn wenig Greifbares, um seine Empfindungen zu begründen. Falgon behandelte ihn gut, ja er liebte ihn wie ein Vater oder zumindest wie ein Onkel, und diese Zuneigung beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit. Nicht von ungefähr nannte der Junge ihn häufig »Oheim« und machte ihn dadurch zum Bruder seiner Mutter, obgleich dieses Verwandtschaftsverhältnis reines Wunschdenken war.
    Weil der eher schweigsame Wahlonkel über die Welt jenseits des Großen Alten selten sprach, musste Ergil seinen Wissensdurst anderweitig stillen. Falgon besaß einige Bücher und er hatte Ergil das Lesen beigebracht. Die Lieblingslektüre des Jungen waren die Reiseberichte von Harkon Hakennase, dem legendären Forscher und Kartografen, der Mirad gründlicher bereist hatte als jeder a ndere. Manche Eskapaden des wagemutigen Abenteurers hörten sich eher nach Lügenmärchen als nach wirklich Erlebtem an. Wohl nicht von ungefähr nannte man solche unglaublichen Geschichten
    »Harkoniaden«.
    Manchmal, wenn Ergil seinem Ziehvater nur hartnäckig g enug zusetzte, konnte dieser erstaunlich gesprächig werden. Falgon verfügte über Geduld und einen schier unermesslichen
    Wissensschatz. Vielleicht war er nicht ganz so weit herumgekommen wie Hakennase, aber dafür neigte er weniger zu Übertreibungen. Bei einigen Themen hielt er sich sogar auffällig bedeckt oder gab lediglich ausweichende Antworten, etwa wenn der Junge nach seinen richtigen Eltern fragte. Mehr noch als nach dem Vater sehnte sich Ergil nach seiner Mutter. Manchmal sah er sie in seinen Träumen, a ber sie war stets von Nebeln umhüllt, nie konnte er ihr Gesicht erkennen. Als Falgon einmal zu ihm sagte, er müsse sich mit dem Unabänderlichen abfinden, hatte er geantwortet: »Ich trage meine Mutter im Herzen, aber ich kann es nicht ertragen, dass sie si c h mi r nich t zeigt.«
    Unbenommen der Dankbarkeit und der innigen Gefühle, die der Junge für den Ziehvater empfand, hauste in einem abgelegenen Winkel seines Geistes ein Wesen namens
    »Misstrauen«, das sich einfach nicht vertreiben ließ. Je älter er wurde, desto häufiger unternahm dieser Störenfried Ausflüge in die höheren Sphären von Ergils Bewusstsein. Immer wenn er Falgon nach der Zeit vor seinem Sturz in den Bach und dem offenkundig damit einhergehenden Gedächtnisverlust befragte, bekam er nur ausweichende Antworten. »Du warst noch zu jung, um dich daran zu erinnern, und das ist gut so. Zweifelst du daran, dass ich nur das Beste für dich will?« Oder: »Wenn es dir an irgendetwas mangelt, dann sage es. Bin ich denn nicht wie ein Vater zu dir?« Mit solchen Worten war es Falgon bisher immer gelungen, die Wissbegier seines Schützlings zu dämpfen. Zumindest vorübergehend. Ergil war ein viel zu aufgeweckter Junge, um sich auf Dauer mit Ausflüchten abspeisen zu lassen. Er wartete nur auf eine passende Gelegenheit, um endlich die dunkle Wolke aus Geheimnissen zu durchdringen.
    Das größte Rätsel war für ihn der Andere. Da gab es jemanden, der Falgon regelmäßig in der Hütte besuchte, mit
    ihm aß, sogar bei ihm schlief – aber immer nur dann, wenn Ergil nicht da war. Er verbrachte nämlich ganze Tage damit, durch den Großen Alten zu streifen, über alles Mögliche nachzugrübeln und zu lernen. Mit Vorliebe studierte er die Pflanzen und beobachtete die Tiere. Unter den Pilzfällern der Waldbolde hatte er einige Bekannte, die ihn r e gelmäßig grüßten, obwohl die knorrigen kleinen Kerle stets einen respektvollen Abstand wahrten. Ergil fühlte sich verbunden mit allen Bewohnern dieses uralten Reiches, als gehöre er von Anbeginn der Zeit dazu.
    Als er wieder einmal unter den himmelhohen Rotgrannen entlangschlenderte und sich vom Duft der Farne und Goldglöckchen betören

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