Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
Flügeln. Zudem verfügte er über einen kräftigen gebogenen Schnabel, der mühelos dicke Knochen brechen konnte. Ergil versuchte den Wald zu fühlen. Wie war es zu dem Unglück gekommen? Warum vergeudete der Vogel seine Kraft mit der Jagd auf Elven? Er hätte schon drei Dutzend von
ihnen fressen müssen, um satt zu werden. Und wie konnte er gleic h zwei dieser scheuen, quirligen Geschöpfe fangen?
Ergil nahm die nähere Umgebung gleichsam durch jede Pore seiner Haut in sich auf. Die Antworten auf seine Fragen waren hier irgendwo verborgen. Er atmete den Wald. Was hatte diesen Jäger und seine Beute zusammengeführt? Er drang in den T a rpun ein, sah sich selbst hoch über den Bäumen des Großen Alten schweben. Und plötzlich richtete sich sein Blick nach oben.
»Ein Nest!«, hauchte Ergil. Das riesige Rund aus trockenen Zweigen hing in schwindelnder Höhe. Da hatte er seine Erklärung. Der Tarpun war ein Weibchen, das sein Gelege verteidigte.
Ohne lange nachzudenken, lief der Junge auf den Nistbaum zu. Ein Blick zur Seite verriet ihm, dass der Greif ihn jetzt entdeckt hatte. Das Weibchen witterte eine neue Gefahr für seine Brut und ließ die zappelnde Beute los. Hoffentlich ist der Elv unverletzt und kann fliehen, dachte Ergil. Er selbst würde dem kleinen Wesen vorerst nicht helfen können.
Tarpune mussten gewöhnlich mit ihren vier krallenbewehrten Gliedmaßen erst einen Stamm emporklettern, weil ihre mächtigen Schwingen ein Auffliegen zwischen den dicht stehenden Bäumen unmöglich machten. Aus luftiger Höhe ließen sie sich dann einfach fallen und breiteten ihre Flügel aus. Aber hier war der Greif im Vorteil. Mit einem kraftvollen Satz stieß er sich von dem Felsen ab. Ein Stück weit schwebte er so dicht über den Boden hinweg, dass hinter ihm die Blätter aufwirbelten. Allmählich gewann er an Höhe. In wenigen Augenblicken würde er eine Schleife ziehen und zurückkehren. Ergil lief einen Zickzackkurs von B aum zu Baum. Er durfte nicht zulassen, dass die Krallen seines Verfolgers ihn ihm Gleitflug packen konnten. In der Nähe der Stämme war er einigermaßen sicher, denn Tarpune kämpften nur im äußersten Notfall am Boden. Der Vogel würde versuchen ihm so lange mit Schnabel und Klauen zuzusetzen, bis er wehrlos war. Hinter dem Jungen nahte sich ein bedrohliches Zischen. Er sprang zur Seite und ließ sich bäuchlings auf den Boden fallen.
Der Tarpun rauschte um Haaresbreite über ihn hinweg.
Ergil rappelte sich wieder hoch und ehe der Greif kehrtmachen konnte, erreichte er den Baum mit dem Nest. Noch hatte er Zeit, um kurz zu dem Felsen hinüberzusehen. Der vorhin schon reglose Elv lag immer noch da, aber der andere war verschwunden!
Schon wieder nahm der Junge das Rauschen wahr, nicht nur mit den Ohren, sondern mit allen Sinnen. Als wären seine Arme zu Flügeln geworden, glaubte er zu spüren, wie die Luft durch seine Finger strömte. Er huschte rasch um den Stamm herum und entging nur knapp den scharfen Krallen des Tarpuns. Dieses Spiel konnte noch stundenlang so weitergehen, wenn er sich hier festnageln ließ. Er maß mit den Augen die Entfernung zum nächsten Baum. Jetzt, nachdem der zweite Elv gerettet war, gab es keinen Grund mehr, die Tarpunhenne weiter zu reizen.
Überr a scht gewahrte Ergil, dass der Greif schon wieder auf ihn zujagte – der Vogel musste eine ungewöhnlich enge Kehre geflogen sein. Anstatt um den Baum zu laufen, blickte der Junge wie hypnotisiert auf das heransausende Tier. Der Abstand zwischen ihnen schmolz rasend schnell dahin. Ergil sah ein Paar starrer grüner Augen auf sich zufliegen…
Unvermittelt senkte der Tarpun seinen Schwanz und schoss in die Höhe.
Der Junge musste den Kopf weit zurückbeugen, um den Vogel, der schnell an Höhe gewann, im Blick zu behalten. Direkt unterhalb des Nestes klammerte sich das Tier schließlich an den Baumstamm.
»Du hast also noch nicht aufgegeben«, murmelte Ergil.
Im nächsten Moment ließ sich der Tarpun fallen. Als wäre es selbst ein moosbedeckter Fels, stürzte das grüne Tier auf den Jungen zu.
Der verharrte reglos auf dem Fleck. »Ich bin dein Freund.« Obwohl Ergils Stimme nur ein Flüstern war, sandte er die Worte mit dem ganzen Körper aus. Auf seiner Haut standen abertausende von Härchen zu Berge. Er glaubte jedes einzelne z u spüren, ja sie schwingen zu lassen wie Harfensaiten, die seine Botschaft untermalten.
Dicht über ihm breiteten sich mächtige Schwingen aus. Noch einmal rauschte die Luft,
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