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Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Titel: Mirad 01 - Das gespiegelte Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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sie fauchte regelrecht, dann landete der Vogel unmittelbar neben dem Jungen.
    Ergils Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Dennoch bemühte er sich, äußerlich ruhig zu bleiben, so wie auch sonst, wenn er mit den Tieren sprach. »Ich möchte deiner Brut keinen Schaden zufügen«, sagte er freundlich.
    Der riesige Vogel legte den Kopf schräg.
    »Ich bin sicher, der Elv wollte deinen Kleinen auch nichts tun.« Ergil deutete zu dem Felsen hinüber.
    Das große Tier riss den Schnabel auf und bewegte hektisch den Kopf.
    »Es war bestimmt nur ein Missverständnis«, fügte der Junge beschwichtigend hinzu.
    Der Tarpun breitete die Schwingen aus.
    »Schon gut«, sagte Ergil und zog jedes Wort übertrieben in die Länge. »Sollte ich mich geirrt haben, so tut es mir Leid. Von mir hast du jedenfalls nichts zu befürchten – solange du meinen Freunden oder mir nichts tust. Und je t zt klettere wieder hinauf zu deinen Jungen. Sie brauchen dich.« Die letzten Worte sprach er mit einem Kloß im Hals. Fast wünschte er, selbst eines der Tarpunküken zu sein, die im Unterschied zu ihm eine Mutter hatten, unter deren Fittichen sie geborgen war en.
     
    Die beruhigenden Worte zeigten Wirkung. Der Vogel watschelte auf den Baum zu, machte einen Satz und grub seine Krallen in die rotbraune Rinde. Ergil atmete erleichtert auf. Bisher hatte er sein außergewöhnliches Gespür für die Natur und seine einschme i chelnde Stimme höchstens dazu benutzt, Eichhörnchen, Faultiere oder andere scheue Waldbewohner anzulocken. Das hier war etwas anderes. Hätte er seine Fähigkeiten falsch eingeschätzt, dann wäre es ihm vermutlich ebenso ergangen wie dem leblosen Elv auf dem Stein.
    Der Tarpun hangelte sich rasch den Stamm empor. Erst als er hoch oben in seinem Nest verschwunden war, fiel die Anspannung von dem Jungen ab und die Sorge um den verschwundenen kleinen Elv kehrte zurück.
    Ergil lief rasch zum Moosfelsen hinüber. Noch ehe er ihn ganz erreicht hatte, drang ein leises Wimmern an sein Ohr. Die letzten Schritte legte er nur noch schleichend zurück und erklomm den großen Findling. Was er dort oben sah, brachte seine Gefühle vollends durcheinander.
    Jetzt erst begriff er, da s s die zwei ein Paar waren. Da lag, noch im Tode wunderschön, ein kleiner Elv. In seiner Brust klaffte eine tiefe Wunde, die vermutlich von einer der Tarpunkrallen stammte. Das silbrig glänzende Wams des Toten war tiefblau von seinem Blut, aber die engen hellgrünen Beinkleider hatten wundersamerweise keinen einzigen Fleck abbekommen. Neben dem Leichnam kniete ein winziges Mädchen, das bequem in Falgons Jagdtasche gepasst hätte. Es weinte so bitterlich, dass sogar Ergil die Tränen kamen. Immer wieder wimmerte es: »Tarakas, o mein lieber Tarakas, wach doch bitte auf und lass mich an deiner Stelle sterben!« Dabei schüttelte es unablässig den Kopf, während es die perlmuttfarbenen Hände des toten Geliebten umfasst hielt. Oder waren die zwei Geschwister?
    Ergi l hie l t den Moment für unpassend, diese Frage zu klären. Immer schon hatte er sich gewünscht einem leibhaftigen Elv zu begegnen – aber nicht unter solchen Umständen. Er beschloss sich zum Fuß des Felsens zurückzuziehen, um die Trauer des Mädchens nicht zu stören. Dort unten konnte er über die zwei wachen, nur für den Fall, dass der Tarpun ein weiteres Mal angreifen sollte. Er war gerade dabei, sich davonzustehlen, als das Weinen der Elvin unversehens verstummte.
    »Willst du mich schon wieder verlassen?«, fragte sie leise. Ihre Stimme klang hell, aber nicht piepsig, wie Ergil es erwartet hätte. Sie wandte ihm ihr Gesichtchen zu. Es glitzerte wie Sternenstaub und schimmerte zugleich wie die Innenseite einer Muschel. Da, wo die Tränen es benetzt hatten, irisierte es in allen Farben des Regenbogens. Auch ihr langes Haar glänzte, als wäre es aus poliertem Kupfer. Sie trug ein ärmelloses, silbrig funkelndes Kleidchen mit einem kurzen gebauschten Rock, der ihre Beine von den Oberschenkeln abwärts unbedeckt ließ.
    I n de m gut en Dutzend Bücher, die Falgon besaß, gab es zwei, die Abbildungen von Frauen enthielten. Deren knöchellange Gewänder waren Ergil als Beispiel schicklicher Bekleidung gezeigt worden. Er hatte nie ganz begriffen, worin der Zusammenhang zwischen der am Leib getragenen Stoffmenge und der Züchtigkeit einer Frau bestand. Wenn er Auskünfte über das andere Geschlecht einzuholen versuchte, bekam Falgon jedes Mal einen seltsam glänzenden Blick, begnügte sich aber

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