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Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Titel: Mirad 01 - Das gespiegelte Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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ließ, hörte er unvermittelt ein brummendes Geräusch wie von einer Ochsenlibelle oder einem Tausendflügler. Mit der ihm eigenen Sicherheit wusste er sofort, dass sich keines der beiden Rieseninsekten auch nur in seiner Nähe befand. Dann vernahm er ein leises Klagen. Das helle Stimmchen klang wie aus weiter Ferne.
    Ergil schloss die Augen, eine Gewohnheit, die er in den letzten sechs Jahren angenommen hatte, um in dem Gewirr, das die vielfältigen Sinneseindrücke manchmal in seinem Kopf verursachten, nicht den Überblick zu verlieren. Wieder drang das Brummen an sein Ohr, als versuche ein Tausendflügler verzweifelt aus dem Netz einer Brockenspinne loszukommen. Unmittelbar darauf fol g te das Jammern des zarten Stimmchens. Und dann hörte der Junge den durchdringenden Schrei eines Tarpun.
    Im Großen Alten gab es keine mächtigeren Greife als die Tarpune. Ihre Flügelspannweite konnte bis zu zehn Ellen betragen. Das tiefgrüne Gefieder der ri e sigen Vögel war in den Baumwipfeln fast unsichtbar. Und wenn sie erst wie ein Stein auf ihre Beute niederfuhren, dann gab es meist kein Entkommen mehr. Selbst Wölfe, Tapire und manchmal sogar
    Grotans standen auf dem Speisezettel dieser Könige der luftigen Höhen. Wer den markerschütternden Schrei eines Tarpuns zu hören bekam, der durfte sich bis zum Sonnenuntergang sicher fühlen, denn die fliegenden Jäger ließen ihre Stimme nur vernehmen, wenn sie ihre Beute entweder gerade getötet oder zumindest fest in ihren Klauen hatten.
    Ergil umrundete einen dicken Baumstamm, seine Augen verengten sich.
    Der Vogel hockte einen Speerwurf weit entfernt auf einem moosbedeckten Felsen. Unter seinem linken Fuß glitzerte etwas. Normalerweise mischte sich der Junge nicht in die Ernährungsgewohnheiten der Waldbewohner ein, so blutig diese auch sein mochten, aber in diesem Fall stockte ihm der Atem. Konnte das sein? Unmöglich!, schoss es ihm durch den Kopf. Er glaubte zu träumen. Ein Elv? Hatte der Tarpun tatsächlich einen Elv gefangen, ein Wesen, das es eigentlich gar nicht geben dürfte? Und wenn doch, wenn all die Geschichten mehr als nur Märchen waren, dann hätte es trotzdem nicht passieren dürfen. Elven waren viel zu klug, viel zu flink, um sich von einem Vogel, zumal von einem dieser Größe, fangen zu lassen. Rasch pirschte sich Ergil an den Felsen heran.
    Der Vogel war zu sehr mit seiner Beute beschäftigt, um den Menschen gleich zu bemerken. Wieder vibrierte die Luft unter dem Schwirren der Elvenflügel. Ja, jetzt bestand kein Zweifel mehr: Der Tarpun hatte eines jener kleinen Geschöpfe des Waldes gefangen, die Ergil bisher nur aus Falgons
    »Märchenstunde« kannte. Elven wurden nur etwa so groß wie die Hand eines Mannes, hatte der Waldläufer mit ernster Miene versichert. Sie waren enorm verwandlungsfähig: Mal sahen sie aus wie ein Stein, mal wie ein verdorrter Ast, dann wieder glichen sie einem Eichhörnchen oder Vogel. Selten
    hatte ein Mensch je die wahre Gestalt eines Elven gesehen, aber es hieß, sie besäßen eine Haut wie Perlmutt und vier durchscheinende Flügel, die sie paarweise ineinander haken konnten, um elegant zwischen den Bäumen hindurchzusegeln. Wieder voneinander gelöst, vermochten sie damit ebenso geschickt zu fliegen oder sogar in der Luft stehen zu bleiben wie eine Libelle.
    Und es gab die Elven wirklich!
    Im Näherkommen hörte Ergil abermals das Weinen des schillernden Geschöpfes. Der Tarpun schien mit ihm zu spielen wie eine Katze mit der Maus. Aber Elven waren keine Tiere. Sie besaßen ebenso viel Verstand wie ein Mensch, e her sogar noch mehr. Entgegen seinen Prinzipien beschloss Ergil diesmal einzugreifen. Er durfte den Elv nicht seinem Schicksal überlassen. Der Gedanke war kaum gedacht, als der Junge eine furchtbare Entdeckung machte.
    Da lag noch ein zweiter Elv auf dem F e ls, ein wenig verdeckt durch die Wölbung des Steins, deswegen hatte Ergil ihn nicht sofort bemerkt. Der Winzling bewegte sich nicht. War der eine Elv dem anderen zu Hilfe geeilt und dadurch in die Fänge des Greifs geraten? Wie auch immer, er musste dem verzweifelten kleinen Wesen helfen. Aber wie?
    Obwohl höchste Eile geboten war, blieb Ergil stehen und schloss einmal mehr die Augen. Er war klug genug, den Tarpun nicht offen anzugreifen. Falgons unermüdliche Warnungen vor den Gefahren des Waldes hatten den o hnehin sehr umsichtig veranlagten Jungen tief geprägt. Der Vogel war ein gefährlicher Gegner. Er hatte messerscharfe Krallen an Füßen und

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