Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
Ausschau zu halten. Im flackernden Schein zweier Fackeln wirkte die von braunen Balken in Karos und Dreiecke unterteilte Fachwerkfassade auf ihn, verglichen mit dem gelben Einerlei der Innenstadt, geradezu aufregend.
Múria bedankte sich für die Dienste des Pferdeknechts Jakelf mit einer kleinen Münze und führte ihren Begleiter sodann zum Hintereingang. Auf der zweistufigen Treppe vor der dunkelbraunen Holztür blieb sie stehen.
Ergil wartete hinter ihr. Somit warteten beide.
»Willst du mir nicht die Tür öffnen?«, fragte sie nach einer Weile.
»Wieso? Ist das für Frauen in Seltensund verboten?«
»Nein, mein Lieber, aber es gilt als Ausdruck von Respekt und Höflichkeit gegenüber einer Dame, wenn ein Mann ihr jede Mühe erspart.«
»Oh! Entschuldige. Ich kenne mich mit den Sitten des Stroml a nde s nich t aus.«
Sie lächelte nachsichtig. »Das ist in ganz Mirad so. Nein, das stimmt nicht. In den Großen Alten scheinen die Anstandsregeln noch nicht vorgedrungen zu sein.«
Ergil wurde rot, was aber im Fackellicht des Hofes nicht weiter auffiel. Er schob sich an Múria vorbei und wollte gerade nach dem Türgriff fassen, als dieser ihm entgegenflog. Mitsamt seiner Lehrerin stolperte er die Treppe hinab, fast wären sie gefallen.
Im Eingang stand Falgon, hinter ihm Dormund und beide strahlten. Ein erdfarbenes Käuzchen flatterte aus dem Haus auf Ergils Schulter und flüsterte in sein Ohr: »Bist du wohlauf, mei n Retter?«
Er nickte.
»Was bin ich froh, euch zu sehen!«, seufzte der Waffenmeister aus tiefstem Herzen. Ergil bemerkte, dass Falgon dabei nur Múria anschaute.
»Eine merkwürdige Art hast du, deine Freude auszudrücken, mein Lieber. Beinahe wären wir von der Tür erschlagen worden«, entgegnete diese.
»Tut mir Leid. Dormund und ich hatten uns nur solche Sorgen gemacht wegen dieser Kerle.«
Múria neigte den Oberkörper zur Seite, um den Schmied besser sehen zu können. »Stimmt das, mein Guter?«
Der Gefragte schob die Unterlippe vor. »Ich war sicher, du würdest mit ihnen fertig werden. Außerdem hat Schekira uns Mu t gemacht.«
»Verräter!«, knurrte Falgon.
Múria lächelt e . Mit leiser Stimme fasste sie in wenigen Sätzen die Geschehnisse seit Beginn der Verfolgung durch Hjalgords Männer zusammen. Dann erkundigte sie sich nach dem Piratenkapitän.
»Wir haben uns bisher nur vom Wirt zwei Zimmer geben lassen und am Fenster nach euch beiden Ausschau gehalten«, erklärte Dormund.
»Wie lieb von euch, dass ihr so um uns besorgt seid.«
Ergil konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Múria dabei hauptsächlich zu einem der beiden Recken sprach.
Gemeinsam betraten die Gefährten das Gasthaus. Von der Hintertür gelangte man in einen nicht sehr breiten Gang, in dem es nach gekochten Würsten und Kohl roch. An der linken Wand hingen zwei Ölfunzeln, die ein schwaches Licht verströmten. Rechter Hand befand sich eine steile Treppe, die zu den oberen Geschossen führte. Von dort stieg gerade ein hagerer Mann mittleren Alters herab. Er hatte glattes, braunes Haar. Mitten auf seiner Stirn klebte ein dunkler Schorffleck wie ein blutsaugender Käfer. Als er Múria anlächelte, entblößte er ein Gebiss, in dem ungefähr jeder zweite Zahn fehlte. Es war der Wirt.
»Möge Eure Hoffnung nie sinken, Herrin vom Seeigelhaus. Welche Freude, Euch wieder einmal in meinem bescheidenen Haus willkommen zu heißen«, sagte er mit einer Verbeugung, die gerade tief genug wa r , um aufrichtig zu wirken.
»Und möge die Eure zur Sonne Eures Lebens werden, Owestroob«, erwiderte Múria.
»Ihr wollt in die Schankstube? Kann ich Euch etwas zu trinke n bringen?«
»Gern, mein Guter. Ich nehme einen kleinen Krug Met und meine Begleiter…« Sie wandte sich ebendiesen zu.
»Einen großen Humpen Bier«, sagte Falgon. Dormund strahlte selig. »Für mich auch.« Ergil zögerte.
»Dem Jungen reicht ein Fingerhut von Eurem Gerstensaft«, fügte der Waffenmeister grinsend hinzu.
Der Wirt nickte.
»Eine Frage noch, Owestroob«, sagte Múria.
»Herrin?«
»Weilt zufällig Bombo von Bolk unter Euren Gästen?«
»Der Kapitän? Ihr habt Glück. Er ist vor zwei Tagen hereingeschneit. Geht in die Gaststube und haltet nach einem großen Krug Bier Ausschau – dahinter müsstet Ihr ihn fi nden.« So war es dann auch. In dem rechteckigen, ziemlich geräumigen Schankraum drängten sich die Gäste nicht gerade. Die grob gezimmerten Tische boten jeweils sechs Personen Platz. An ungefähr
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