Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
dass sein Helm in bedenkliche Schieflage geriet. »Entschuldigt meine Vermessenheit, aber darf ich Euch noch eine Frage stellen?«
Múria verschränkte die Arme vor der Brust. »Nur zu.«
»Kann es sein, dass Eure Stute auch einen neuen… Schüler hat? Ich könnte schwören, sie vor kaum einer halben Stunde mit einem stattlichen Rotfuchs gesehen zu haben.« Das Grinsen des Wachmannes nahm schamlose Ausmaße an.
Die Heilerin drehte sich wortlos um und lief mit ihrem jungen Begleiter in das Hafenviertel hinein.
Die Prinzen ahnten schnell, warum ihr Ziehvater den Besuch der Unterstadt als verzichtbare Erfahrung eingestuft hatte. Schon nach wenigen Schritten bot ihnen ein dürftig bekleidetes Mädchen mit wallend schwarzer Mähne und keckem Augenaufschlag »ein Bett für die Nacht« an. Der Dirne unterlief nur das Versehen, die Gestalt unter dem nachtblauen Umhang zu verkennen.
Múria warf die Kapuze zurück. Honiggelbes Haar floss über ihren Rücken, leuchtete noch im letz t en Licht der Dämmerung. Majestätisch stand sie da, fixierte mit kühlem Blick das Mädchen und wartete. Die zwei waren wie Tag und Nacht, wie Licht und Schatten, wie Feuer und Eis. Twikus kannte das Vibrieren der Luft, wenn ein Unwetter den Wald mit Blitzen heimsucht und einem sämtliche Haare zu Berge stehen. Genau so fühlte sich dieser Augenblick an. Eben erst hatte er erlebt, wozu Múria im Stande war. Er hielt es nicht für ausgeschlossen, dass sie die keineswegs hässliche Liebesdienerin in eine schrumpelige Greisin verwandelte.
Stattdessen fragte die Herrin der Seeigelwarte nur: »Bist du sicher, Tjelma, dass du das Richtige tust?«
Múria hatte kaum die Stimme erhoben und dennoch auf eine fast unheimliche Weise gebieterisch geklungen. Das Mädchen wandte sich a b und lief schluchzend davon. Twikus sah ihm noch eine Weile nach, bis es in einem windschiefen Bretterverschlag verschwand. Erst danach wagte er wieder in Múrias Gesicht zu sehen.
Mit dem Daumen zu besagtem Haus deutend, sagte er: »Erst der Wachmann und j etz t si e – kennst du eigentlich jeden in Seltensund?«
»Was meinst du damit?« Múria setzte den Marsch durch das Hafenviertel fort und ihr Schüler stolperte hinterher.
»Sie ist eine Hure.«
»Ic h weiß.«
»Falgon hat gesagt…«
»Ich kann mir denken, was er gesagt hat, und ich finde selbst auch wenig Gefallen am Gewerbe dieser Frauen, aber trotzdem bleiben sie Menschen. Wer meint, sie müssten ein anderes Leben führen, der sollte auch bereit sein, ihnen auf den richtigen Weg zu helfen.«
»Un d das hast du getan?«
»I n d em einen oder anderen Fall schon. Tjelma ist allerdings bis jetzt nur zu mir gekommen, wenn ihre Freier sie besonders übel zugerichtet haben.«
»Anscheinend kennst du tatsächlich jeden in der Stadt.«
»Nicht jeden. Es gibt ein paar, die nie ernstlich krank w aren oder nie einen ihrer Lieben leiden sahen. Wenn allerdings die studierten Heiler mit ihrer Kunst am Ende sind – was leider viel zu oft geschieht –, dann kommen die einfachen Leute zur Kräuterhexe auf den Berg. Naja, nicht alle. In ernsten Fällen mache ich auch Hausbesuche. Und die Fürsten oder Könige schicken prinzipiell nach mir.«
»Könige?«
»Genau genommen ist es Königin Roodermund, Hilkos
Gemahlin, die sich hin und wieder meiner Dienste versichert.«
Und ganz nebenbei den neuesten Klatsch und Tratsch v om Hofe erzählt, fügte Ergil mit unhörbarem Kichern hinzu. Der überraschende Einwurf aus dem Hinterzimmer seines Bewusstseins ließ Twikus zusammenschrecken.
»Was hat er gesagt?«, fragte Múria.
Der Gefragte stöhnte. »Warum sieht mir nur jeder an, wenn ich mit meinem Bruder rede?«
»Wir werden das üben, mein Lieber. Wie wäre es, wenn ihr zwe i di e Plätz e tauscht?«
»Wieso?«
»Bei dem, was ich vorhabe, scheint er mir der Geeignetere zu sein.«
»Hab schon verstanden. Die Stunde der Denker bricht an.« Twikus zog sich gerade weit genug zurück, um die Kontrolle
über ihren Körper an seinen Zwilling abzutreten, aber trotzdem nichts zu versäumen. Einige Muskeln in seinen Armen und Beinen zuckten, weil die Übergabe nicht ganz reibungslos verlief, dann hatte Ergil das Heft in der Hand.
»Möge deine Hoffnung nie sinken, ehrenwerte Lehrerin«, begrüßte er Múria mit einer Verbeugung.
Ihre linke Braue ruckte nach oben. »Spare deine Kräfte, junger Mann. Wirf lieber ein Auge auf das Eckhaus da unten.« Múria deutete die Straße hinab.
Ergils Blick wanderte an den
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