Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
roten Wollfaden, den nur sie sehen konnte, strebte sie, vornehmlich durch Nebengassen, dem Hafenviertel entgegen.
Obwohl die Sonne l ängst untergegangen war, wurde es selbst in den engsten Gassen nicht richtig dunkel. Die Häuser schienen von innen heraus zu strahlen. Es war zauberhaft, zugleich aber auch eintönig. Ins Bewusstsein der Zwillingsbrüder drang von alldem ohnehin nur wenig vor. Zu viel war in der letzten Stunde geschehen, das besprochen werden musste.
»Habt ihr euch wieder vertragen?«, fragte ihre Führerin nach einer Weile.
Twikus brauchte einen Moment, um vom inneren Dialog zum äußeren umzuschwenken. »Woher weißt du, dass wir eine Meinungsverschiedenheit hatten?«
»Dein Gesicht und deine Körperhaltung haben es mir verraten . Gib t e s Probleme?«
»Wir sind gerade von vier Männern durch die Stadt gehetzt worden. Ist das nicht Problem genug? Wer waren diese Kerle? Wie hast du sie erkannt? Sind sie Spione des Großkönigs?«
»Die drei Bärtigen kenne ich nicht, aber das Mondgesicht heißt Vigan. Ein übler Geselle. Er gehört zu Hjalgord.«
»Die Namen sagen mir nichts.«
»Hjalgord ist kein Geringerer als ein Vetter von König Hilko und nebenbei der vermutlich reichste Mann im ganzen Stromland.«
»Dann müssten wir Verbündete sein. Hilko hat sich doch bisher immer erfolgreich dem Bruder meines Vaters widersetzt. Warum müssen wir uns vor den Männern seines Vetter s verstecken?«
»Das solltest du mal Kapitän Bombo fragen. Er hat eine Geschichte zu erzählen, die kaum weniger traurig ist als die des braven Dormund. Hjalgord gibt sich gerne als Wohltäter des Volkes, aber in Wirklichkeit interessiert ihn nur das Geld. Seine riesige Handelsflotte ist auf dem Ruin zahlreicher kleiner Flussfahrer gebaut. Du wirst es kaum glauben, aber er macht sogar mit Soodland Geschäfte.«
»Mit König Hilkos Erzfeind? Wie kann er das?«
»Wo üppige Gewinne winken, wird die Moral alsbald versinken.«
»Wi e bitte?«
»Ein Sprichwort. I c h hätte auch sagen können: ›Geld regiert die Welt.‹ Oder: ›Skrupel sind der Luxus des armen Mannes.‹ Es gibt viele Redewendungen, die mehr oder weniger das Gleiche ausdrücken: Nur wenige Mächtige und Reiche können der Versuchung widerstehen, durch Täuschu n g, Verrat oder Unrecht anderer Art an Einfluss und Vermögen zu gewinnen.«
»Und König Hilko duldet das Treiben seines Vetters?«
»Er drückt beide Augen zu. Wir wollen zu seinen Gunsten annehmen, dass ihn die Bedrohung seines Reiches an sämtlichen Grenzen zu sehr beschäftigt, um sich auf solchen
›Nebenschauplätzen‹ zu verausgaben. Aber ich wäre nicht wirklich überrascht, wenn er an den Geschäften Hjalgords mitverdient. Sein Siegelbewahrer und die übrigen Beamten sollen jedenfalls nicht kleinlich sein, jemandem gegen eine ordentliche Bestechung einen Gefallen zu tun.«
Twikus schüttelte den Kopf. »Irgendwie hatte ich mir das friedliche Stromland anders vorgestellt.«
»Willkommen in der wirklichen Welt!«
Endlich hatten sie das Hafentor erreicht. Drei geharnischte Männer der Stadtwache patrouillierten auf der Mauer. Einer – groß, klapperdürr, mit enorm breitem Mund – stand unten neben einer Fackel und begrüßte Múria grinsend.
»So spät noch unterwegs, Herrin?«
»Koliken und Wehen kennen keinen Schlaf, Folger. Du müsst e st das doch wissen.«
»Wohl wahr! Und jetzt werdet Ihr mich gleich fragen, ob ich das kleine Tor für Euch und Euren…«
»Schüler.«
»Ah! Ist der alte Gonther in eine Schlucht gefallen?« Das
Grinsen des Mannes wuchs auf groteske Weise in die Breite.
»Wäre t Ih r so lieb und machtet das kleine Tor für mich und meinen Famulus auf?« Múria lächelte auf eine unwiderstehliche Weise.
»Das könnte mich teuer zu stehen kommen.«
»Ja, wenn Euer Weib das nächste Mal um ein Mittel gegen Euer Darmreißen bittet.«
Der Soldat stöhnte. »Ich hab schon verstanden. Also kommt. Aber erzählt es nicht weiter.«
»Damit ich Euch die Preise nicht verderbe?«
Er rollte mit den Augen, löste einen Schlüsselring vom Gürtel und öffnete damit die in das zweiflügelige Holztor eingelassene Pforte. Múr i a und Twikus schlüpften hindurch.
Sie hob zum Gruß die Hand. »Danke, Folger. Jetzt habt Ihr etwas gut bei mir.«
Er lächelte schief. »Lieber nicht.«
Die Heilerin und ihr Schüler entfernten sich vom Tor, als unversehens hinter ihnen ein Ruf erscholl.
»Warte t !«
Sie drehten sich um.
Folger kratzte sich am Hinterkopf,
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