Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
ansonsten mit eher einsilbigen Antworten. Jetzt also sah der Junge zum ersten Mal ein weibliches Wesen, dessen Körperproportionen – abgesehen von der Größe und den Flügeln – denen eines menschlichen Mädchens sehr ähnlich sein mussten. Am Fehlen des Stoffes nahm er keinen Anstoß. Im Gegenteil, die Zartheit der Elvin entzückte ihn.
»Warum sagst du nichts?«, fragte sie erneut.
Ergil räusperte sich. »Ich… äh… wollte dich nicht stören.«
»Wie kommst du auf diesen Gedanken? Du hast doch mein
Leben gerettet.«
»Naja… Falgon hat gesagt, die Elven zeigen sich uns Menschen nicht gerne in ihrer wahren Gestalt.«
»Das stimmt. Ich war abgelenkt, da habe ich nicht gleich auf dich geachtet…« Sie schluchzte leise und schüttelte verzweifelt den Kopf.
Ergil kniete sich zu ihr hinab und streichelte mit dem Zeigefinger behutsam über ihr langes, seidiges Haar. »Es tut mir so schrecklich Leid, kleine Elvin, was mit deinem Gefährten geschehen ist. Ich wünschte, ich wäre rechtzeitig gekommen , um…«
»Dich trifft keine Schuld an Tarakas’ Unglück«, unterbrach sie ihn fast barsch. »Er wollte e in Ei aus dem Gelege des Tarpuns stehlen, um als Held gefeiert zu werden. Dabei hat der grüne Fürst des Himmels ihn erwischt. Ich wollte meinem Liebsten noch zu Hilfe eilen und bin dabei selbst in die Fänge des Greifs geraten.«
Der Junge kratzte sich verständnislos den blonden Haarschopf. »Tarakas hat sich freiwillig ins Nest eines Tarpuns begeben? Wie konnte er nur so etwas tun?«
»Er hoffte, dadurch meinen Vater zu beeindrucken, damit er mich ihm zur Frau gibt.« Sie schüttelte abermals schluchzend den Kopf. »Dabei wäre ich doch auch so mit ihm gegangen. Seine Liebe war mir wichtiger als das Königreich.«
»Du bist…?« Jetzt staunte Ergil umso mehr.
»Ja«, schluchzte sie. »Ich bin Schekira, die Tochter von Dormas, dem König der Waldelven, dem Sohn von Doriman und dem Enkel von Tachpanes dem Großen. Aber was habe ich davon? Einen Liebsten, der kalt ist wie der Stein, auf dem er liegt.« Sie brach erneut in Tränen aus.
Mit der Oberseite seines Zeigefingers streichelte Ergil sanft ihre kleinen Arme. Sie waren erstaunlich warm. Er spürte, wie sich Schekira gegen seine Hand sinken ließ. Vorsichtig hob er sie auf, hielt sie vor sein Gesicht und sagte mit allem Ernst, zu dem er fähig war: »Es fällt mir schwer, das zu erklären, aber bitte glaube mir, Prinzessin, ich kann deinen Schmerz besser fühlen, als du es für möglich hältst.«
»Ich weiß, dass du das kannst.«
Ihre Antwort überraschte ihn. »Wie meinst du das?«
»Ic h kenn e dich.«
»Du…?«
»Der ganze Wald spricht von dir.«
»Wirklich ? Vo n Ergil?«
»Deinen Namen höre ich zum ersten Mal, aber deine Streifzüge durch den Großen Alten sind in aller Munde. Die Bolde werden nicht recht schlau aus dir, weil du mal mit dem Bogen die Vögel vom Himmel holst und sie ein andermal mit süßer Stimme zu dir rufst.«
»Ich habe noch nie einen einzi g e n Pfei l abgeschossen.«
»Da s stimmt.«
Jetzt war Ergil völlig verwirrt. Die Elvin musste unter dem Eindruck der schrecklichen Ereignisse den Verstand verloren haben.
»Du glaubst, ich habe den Verstand verloren, nicht wahr, Ergil?«
»Äh…«
»Gib es ruhig zu.«
» Naja, ich verstehe nicht so recht, was du da sagst.«
»Du bist noch sehr jung, Ergil.«
»Danke. Du bist auch nicht gerade eine Greisin.«
»Immerhin lebe ich seit siebenundsechzig Jahren. Bei der Geburt deines Ziehvaters haben meine Schwestern und ich am Fenster gesessen und uns über seinen ersten Schrei gefreut.«
»D u sprichs t vo n Falgon?«
»Dem Sohn von Boger und Sebrina, die den Saft der
Goldalben sammelten.«
»Das kann nicht sein!«
»Doch, hat dir Falgon nicht erzählt, dass wir Elven mit den Sirilim verwandt sind? Wie diese besitzen wir eine große Lebenskraft.«
»Schon, aber ich hatte das bis heute früh für eine hübsche Gutenachtgeschichte gehalten.«
»Bist du jetzt enttäuscht?«
»O nein! Wäre das Drumherum nicht so traurig, dann würde ich mich über unsere Begegnu n g riesig freuen… Na ja, ehrlich gesagt, ein bisschen tue ich’s trotzdem. Obwohl… Wäre das alles hier nicht passiert, hätte ich wohl nie deine wahre Gestalt zu sehen bekommen.«
Sie blinzelte ihn aus seiner Handfläche heraus an. »Wer weiß. Vielleicht hätte ich für dich eine Ausnahme gemacht.«
»Wies o den n das?«
»Wir beide sind uns ähnlicher, als du es für möglich
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