Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
haben«, schlug Ergil vor.
»Das sollte unser äußerstes Mittel bleiben, mein Lieber. Denke daran, wie viel Kraft dich diese verzweifelte Maßnahme gekostet hat. Du wärst womöglich nach einer Umlenkung so erschöpft, dass du den Sternenpfad nicht mehr fändest.«
»Den…?«
»Die unsichtbare Brücke. – Lass uns bis zur Dämmerung warten.«
Múrias Empfehlung erwies sich, wie so oft, als weiser Rat, denn wenig später drehte der steife Wind abermals. Jetzt wehte er wieder aus nördlicher Richtung. Auch der Regen ließ nach und hörte schließlich ganz auf. Die Schaluppe krängte stark nach backbord, während sie westwärts durch die Wogen pflügte.
Die Dämmerung setzte früh ein, weil die Bewölkung so dicht wie das Winterfell eines Widders war. Im Zwielicht des schwindenden Tages verschwamm die Grenzlinie zwischen Himmel und Wasser. Erschwerend kam die hohe Dünung hinzu, die das Boot unablässig hob und senkte.
Ergil rang mit sich. Warum noch weiter zögern? Nicht mehr lang und Finsternis würde sich über den See senken. Sollte er Múria bitten, den kräftezehrenden »Sprung« zu wagen? Er öffnete den Mund, holte Luft…
»Land in Sicht!«, schrie Jonnin vom Bug.
Falgon schloss die Augen. »Dem Himmel sei’s gedankt!« Neue Zuversicht strömte in die müden Seelen. Wenn nur das
Tageslicht nicht so schnell schwände!
Als die Sicht kaum mehr dreihundert Fuß weit reichte, ließ Bombo die Sturmlampe entzünden und am Bugsteven aufhängen. Außerdem befahl er Jonnin ab sofort ununterbrochen die Tiefe auszuloten. Als nur mehr der Lichtkreis der zischenden Ölleuchte die Existenz einer Welt außerhalb der Finsternis verriet, meldete der junge Seemann einen viertel Faden Wasser unter dem Kiel. Der Kapitän gab Kommando zum Beidrehen. Er legte das Ruder zu Luv, wodurch sich der Bug in den Wind drehte, und ließ Jonnin das Segel bis auf einen kleinen Rest reffen. Die Schaluppe verlor schnell an Fahrt und trieb kurz darauf quer in dem breitseits unter ihr vorquellenden Wasser.
»Kann jemand das Ufer sichten?«, fragte Bombo. Alle verneinten.
» Hoffentlich ist das unter uns nicht nur eine verdammte Sandbank. Jonnin!«
Der junge Seemann schien genau zu wissen, was sein Kommandant von ihm wollte. Er schlang das Ende der am Bugsteven befestigten Leine um sein Handgelenk und sprang über Bord. Nur sein Kopf und die Schultern ragten aus dem See.
»Sei vorsichtig, hörst du?«, rief Bombo.
»Ja, ja«, gab Jonnin ungehalten zurück.
Ergil kannte diesen Ton nur allzu gut, der sich beim geringsten Empfinden einer ungerechtfertigten Bevormundung ganz von allein einstellte. Kurz darauf spürte er einen kleinen Ruck. Die Leine hatte sich gespannt.
Der Seemann schleppte die Meerschaumprinzessin Schritt für Schritt durch die Dunkelheit. In seinem Rücken herrschte gespanntes Schweigen.
»Es wird flacher«, meldete Jonnin aus dem jetzt nur noch brusthohen Wasser. Wenig später kam der befreiende Ruf:
»Ich kann das Ufer sehen!«
An Bord brach verhaltener Jubel aus.
Die Schaluppe wurde so weit wie möglich zum Strand gezogen. Dann warf Dormund den Draggen ins Wasser. Der vierarmi g e kleine Anker ohne Stock war eher zum Herausfischen von Gegenständen als zum Halten des Bootes bestimmt, weshalb Bombo es zusätzlich mit einer langen Leine am Strand festmachen ließ.
Múria wurde von Falgon ans Ufer getragen. Dormund schnappte sich einfach den kleinen Kapitän und schleppte ihn, seine Proteste nicht beachtend, ans Land.
»Das war unnötig«, bemerkte der Kommandant, als er endlich wieder auf eigenen Beinen stand. Er zupfte an seiner grauen Jacke herum und kontrollierte die Vollzähligkeit der M e ssingknöpfe.
»Keine Ursache«, erwiderte der Schmied.
»Ich sehe schwarz«, sagte Ergil in einem so düsteren Ton, dass alle Gefährten ihn erschrocken anschauten. Sein Blick war indes nach oben gerichtet.
Jetzt ging auch Falgon auf, was seinen Zögling beunruhigte.
»Es ist kein einziger Stern zu entdecken.«
»Womit sich die Frage stellt, wie wir die Brücke finden sollen. Múria, hast du nicht gesagt, ihr Spiegelbild zeige sich im Wasser?« Er deutete in die dunkle Leere über dem See.
»Aber da ist überhaupt nichts z u sehen.«
Nach vier Stunden wurde sogar Múria nervös. Die sonst immer so gelassene Herrin der Seeigelwarte wanderte unruhig am Ufer auf und ab. Ihre Schritte knirschten in den Steinen. Niemand wagte ihre Gedanken zu stören.
Schekira befand sich seit dem Landgang bereits zum
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