Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
schwer. Wenn er etwas zu weit nach rechts oder links abdriftete, dann erschien wieder das Spiegelbild der Brücke im Wasser. Solange sie unsichtbar blieb, befand er sich genau auf Kurs. Auf diese Weise bewegte sich die Gruppe etwa eine halbe Stunde lang auf den See hinaus.
»Die Insel!«, meldete s ich unvermittelt Schekiras Stimme. Die Elvin hatte die schärfsten Augen von allen. Aufgeregt flog sie empor und schwirrte ein Stück voraus.
Bald konnten auch die anderen den dunklen Schatten sehen, der über dem Wasser lag. Kurz darauf kehrte Schekira auf die Schulter ihres Freundes zurück.
»Ich glaube, ich habe auf der Insel Olams Haus gesehen. Es war irgendwie wundersam«, berichtete sie aufgeregt.
»Wie meinst du das, kleine Schwester?«, erkundigte sich Múria.
»Es flimmerte ganz eigenartig, fast wie Satimstaub. Aus der Luft konnte ich den Grund nicht genau erkennen. Beinah kam es mir so vor, als sei es lebendig.«
»Würde mich auch nicht mehr überraschen«, brummte Falgon.
»Und das hast du alles im Dunkeln gesehen?« Dormund klang skeptisch.
»Auf der Insel sche i nt ein wundervolles Licht, junger Freund«, antwortete die Elvin.
»Scheint dort ja alles irgendwie großartig zu sein.«
»Glaubst du mir etwa nicht, Schmied Dormund? Wie wär’s, wenn du mal nach oben schaust?«
Jonnin, der zu Schekiras größten Bewunderern gehör te, befolgte umgehend ihren Rat. Im nächsten Moment entrang sich ihm ein Seufzer, als hätte er etwas absolut Einmaliges erblickt: »Sterne!«
»Wurde ja auch Zeit, dass die Wolken endlich aufreißen«, nörgelte Bombo.
Dormund brummte etwas Unverständliches, fü g te dann aber deutlicher hinzu: »Irgendwie habe ich das Gefühl, dieses Loch da über uns war schon die ganze Zeit hier. Schaut mal zu den Rändern. Die Wolken fließen drum herum wie Wasser, das sich im Bach an einem Felsen bricht.«
»Du könntest Recht haben«, gab Múria zurück.
»Wahrscheinlich ist die Insel von einer Aura umgeben, die sie aus unserer Wirklichkeit entrückt. Deswegen sehen wir sie erst jetzt, wo wir ihr schon ganz nahe sind.«
So musste es sein. Je näher die Gefährten der Insel kamen, desto mehr d e r bunten Himmelslichter wurden sichtbar. Hier glitzerte ein gelbes, dort ein grünes und an anderer Stelle glühte ein ganzer Haufen davon orangerot. Bombo murmelte voller Unbehagen etwas in seinen Bart, das sich anhörte wie:
»Habe noch nie ein einziges dieser Sternbilder gesehen.« Und mit jedem Schritt öffnete sich das Loch in den Wolken weiter, wie das glosende Auge eines Drachen.
Aber auch das Eiland am Ende des Sternenpfades veränderte sein Gesicht. Die anfangs schwarze Masse wurde zunehmend heller, und a ls die Wanderer es nach ungefähr einer Stunde endlich erreichten, sahen sie Felsen und üppig wuchernde Bäume, die alle glühten, als würde die aufgehende Sonne sie bescheinen. Doch es war noch nicht einmal Mitternacht.
Sobald sie auf der Insel angekommen w a ren, übernahm Schekira die Führung. Sie dirigierte ihre Freunde etwa eine Viertelmeile den Sandstrand hinauf. Danach ging es auf einem Weg aus schneeweißen, quadratischen Steinplatten in einen Palmenwald hinein. Vögel zwitscherten. Insekten summten. Di e I n sel war ein Paradies, ein blühender Garten im Morgenlicht.
Ergil rief sich in Erinnerung, dass dies alles ein Trugbild sein musste, so wie der Sternenpfad. Nein, das stimmte nicht. Nur er hatte die Brücke sichten können und auch nur ihr Spiegelbild. Hier dagegen bewunderten alle die üppige Vegetation, sie rochen den Duft der Blumen und lauschten dem Gesang der Vögel…
»Da vorne ist es«, flötete die Elvenprinzessin in sein Ohr. Ihre Stimme konnte durchaus mit dem Zwitscherkonzert aus dem Palmenhain konkurrieren.
Zwischen den Bäumen tauchte ein Schillern auf, das der Prinz zunächst kaum für ein Haus gehalten hätte. Aus dem allgegenwärtigen Orange des Morgenlichts blitzten kräftige Farben wie funkelnde Juwelen hervor: blau, grün, gelb, braun und rot. Die senkrechte Wand – sie glich eher einem Vorhang
– flimmerte, als hingen abertausende Pailletten daran, die der Wind unablässig bewegte. Verständlich, dass Schekira dieses Wunder mit etwas Lebendigem verglichen hatte.
Die Bäume rückten nun weiter auseinander und bald blieben sie ganz zurück. Nur ein violettfarbener Moosteppich bedeckte noch den Boden. Jetzt konnten die Gefährten das erstaunliche Gebäude im Ganzen sehen.
Es war, so weit man das mit bloßem Auge
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