Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
ihn, so wie sie es bei der Umsetzung der Seskwin getan hatte. Er drehte den Kopf nach rechts, um das Seeufer in Richtung Süden abzusuchen. Nichts. Danach wandte er sich nach links.
Ein Beben ging durch seinen Körper.
»Was ist?«, fragte Múria.
»Ich kann eine helle Linie auf dem Wasser sehen.«
»De r Sternenpfad ! Wo?«
»Etwa eine knappe Meile nördlich von uns.«
»Dann nichts wie hin.«
Die anderen Gefährten hatten den leisen Wortwechsel der beiden gespannt verfolgt. Als Ergil und Múria sich jetzt in Bewegung setzt e n und, einander weiter an den Händen haltend, den Strand entlangliefen, folgten sie einfach dicht hinter ihnen.
Nachdem sie ungefähr die halbe Wegstrecke zurückgelegt hatten, schwirrte Schekira heran. Sie landete auf der Schulter des Prinzen. Obwohl sie die Situation sofort richtig eingeschätzt und ihre Landung dementsprechend behutsam durchgeführt hatte, öffnete Ergil unwillkürlich die Augen.
Zu seinem Erstaunen verschwand der Sternenpfad dadurch nicht etwa, sondern er konnte ihn jetzt sogar klarer sehen. Auf dem kabbeligen Wasser schwamm, so schien es, das Bild einer langen Reihe von Steinbögen, die sich in gerader Linie vom Ufer bis ins Dunkel über dem See erstreckte. Die Brücke ragte etwa zehn Fuß weit aus dem Sternenspiegel heraus.
Hinter dem Prinzen u n d seiner »Wegbereiterin« stolperte jemand. Bombo stieß einen kleinen Fluch aus. »Verdammt, ich habe mir den Zeh angestoßen!«
»Pscht!«, machte Múria.
Ergil bemerkte das Gejammer des kleinen Piraten kaum. Er grübelte über das Spiegelbild nach. Es war doch b e stimmt zum Pfad versetzt. Wie konnte er den Aufgang zur Brücke finden? Dem Gefühl nach musste sie wohl ein Stück weit den Strand hinaufreichen, also zog er seine Begleiterin nach links, weiter vom Wasser weg. Im Schlepptau folgten die übrigen Gefährten.
» W o willst du hin?«, fragte Múria.
»Ich suche den Anfang des Pfads.«
»Achte einfach auf die Reflexion.«
Das tat er. Je näher er der Bogenbrücke kam, desto schmaler wurde ihr Abbild auf der Oberfläche des Sees. Offenbar konnte es sie nicht durchdringen. Plöt z lich war die Spiegelung sogar ganz verschwunden. Abrupt blieb er stehen und wandte sich dem Sternenspiegel zu.
»Hie r is t es.«
»Dann führe uns aufs Wasser hinaus«, sagte Múria. Ergil zögerte.
»Warum gehst du nicht?«, fragte sie.
»Weil… ich nichts sehe.«
»Vertrau mir, mein Lieber, der Sternenpfad ist da.«
Bedächtig setzte er sich in Gang. Für die nachfolgenden Männer musste er wie ein staksender Reiher aussehen: Seine Zehenspitzen tasteten sich langsam vor, suchten, schoben sich noch weiter in die Leere, bis das Übergewicht ihn schließlich zum Schritt zwang. Die Stiefelsohle drückte sich in die losen Steine, die leise aneinander schabten. Dieses Schreiten wiederholte sich vier oder fünf Mal. Dann bemerkte Ergil eine Veränderung.
Sein Fuß traf früher auf Widerstand als erwartet. Er spürte auch keine Kieselsteine mehr, sondern festen, glatten Boden.
»Dormund?«, sagte Ergil leise.
»Ja?«
»Ich glaube, jetzt kannst du die Fackel anzünden.«
»Nichts lieber als das.«
Das typische Klicken drang aus der Dunkelheit, das be im Aufeinandertreffen von Feuerstein und Eisen entsteht. Helle Funken sprühten. Kurz darauf brannte die Fackel.
»Beim Allmächtigen!«, stieß Falgon hervor, als er Ergil und Múria etwa zwei Handbreit über dem Boden schweben sah. So jedenfalls sah es aus.
»B l eibt direkt hinter uns!«, mahnte Múria die Männer, bevor sie Ergil zum Weitergehen drängte.
Für den war es eine gleichermaßen beunruhigende wie aufregende Erfahrung, über eine unsichtbare Brücke zu gehen. Bald blieb der steinige Strand zurück und er führte seine Freunde auf den See hinaus. Nach einigen Schritten bemerkte der Prinz zu seinen Füßen ein rechteckiges Loch im Wasser, durch das man bis zum Seegrund blicken konnte. Erschrocken blieb er stehen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Schekira auf seiner Schult er.
»Da ist ein trockener Schacht.« Ergil deutete nach unten.
»Ich nehme an, der Sternenpfad ruht auf Pfeilern.«
»Ja, er ist eine steinerne Bogenbrücke… Ach, jetzt verstehe ich, was du meinst! Das Loch ist gar kein richtiges Loch, sondern eine unsichtbare Stütze.«
»Unsere Zeit ist knapp bemessen«, drängte Múria. »Geh weiter!«
Er setzte sich wieder in Bewegung. Schnell gewann er mehr Sicherheit. Solange er konzentriert blieb, war das Marschieren im Nichts gar nicht so
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