Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
gefügt zu haben.
Das Brummen der Wächter war jetzt so laut, dass die Luft in der Tropfsteinhöhle vibrierte.
Meine Beine! Ich kann meine Beine nicht mehr fühlen!, schrie Twikus entsetzt. Ergil, du bist der Denker von uns beiden. Quetsch gefälligst dein Hirn aus! Jeder besitzt irgendwas, das er verlieren kann, und wenn es nur sein Leben ist. So gesehen kann sich doch niemand vor der Angst verstecken. Aber Olam hielt die Grauhemden trotzdem nicht für unbesiegbar. Muss man denn ein lebensmüder Einzelgänger sein, ohne Freunde und Fa…?
Das ist es!, fiel Ergil seinem Bruder ins Wort. Warum bin ich nicht früher darauf gekommen?
Sprich jetzt nicht in Rätseln, Ergil. Was ist die Lösung? Was müssen wir tun?
Ich glaube, Olam wollte uns mitteilen, dass die Furcht nur den bezwingen kann, der sich von ihr beherrschen lässt.
Du hast Recht. Denn nur dann ist sie lähmend. Der Äonenschläfer sagte ja nicht, man dürfe keine Furcht haben. Solange sie zur Vorsicht mahnt, ist sie sogar ein Schutz…
… und wenn man durch die Überwindung seiner Angst etwas gewinnt, das den befürchteten Verlust sogar aufwiegt …
… dann vermag man seine Furcht zu besiegen.
Es kommt also darauf an, ob man das Nutzlose von dem Wertvollen unterscheiden kann.
Und dann das Richtige wählt.
Jetzt haben wir’s! Sag nie mehr, du seist kein Denker, Twikus.
Aber wir sterben, Ergil. Was können wir gewinnen, wenn wir unser Leben und das unserer Freunde opfern? Die Rache an Wikander ist so ein Opfer nicht wert.
Das sehe ich genauso. Doch wie steht es mit der Gerechtigk e it? Wenn durch unseren Tod Wikanders Willkür ein Ende findet, würde es vielen Menschen nach uns besser gehen. Das ist es, was ich mir von Herzen wünsche.
Twikus dachte ein, zwei Herzschläge darüber nach. Dann antworteten seine Gedanken aus tiefster Überze u gung: Das ist wahr. Dafür lohnt es sich zu leiden… Ergil?
Ja?
Meine Füße. Sie kribbeln!
Nicht nur das. Twikus konnte auch sehen, wie das Grau aus seinen Händen wich. Der kurze, für die drei Wächter unhörbare Wortwechsel zwischen den Brüdern hatte mehr bewirkt als der Einsatz von Schwert und Bogen. Zwar konnte er die Angst der Zwillinge nicht gänzlich verdrängen, aber sie lähmte die beiden nicht mehr. Zum ersten Mal war ihnen richtig bewusst geworden, wofür sie all die Entbehrungen und Leiden auf sich genommen hatten. Es ist eben ein himmelweiter Unterschied, seine Aufgabe nur mit dem Verstand zu begreifen oder sie mit dem Herzen anzunehmen.
Immer noch beherrschte das ohrenbetäubende Gebrumme die Tropfsteinhöhle. Die drei Wächter hielten ihre Arme schräg nach oben und zitterten mit den Händen, als könnten sie damit alles Böse auf die Prinzen herabrufen. Die aber wappneten sich jetzt zur Gegenwehr.
Lass uns versuchen sie auf dieselbe Weise zu schlagen, wie wir Triga und den Wagggeneral besiegt haben, erklärte Twikus.
Gut. Ich helf dir dabei, versicherte ihm Ergil.
Und beflügeln wird euch beide Nisrah, versprach der Weberknecht.
Wie schon oft zuvor flochten sie aus ihren Sinnen ein starkes Tau, um die Zeit in andere Bahnen zu lenken, doch obwohl diesmal sogar der Netzling seine Kraft beisteuerte, zeigten ihre vereinten Anstrengungen keinerlei Wirkung. Die Wächter ließen sich weder vorzeitig vergreisen noch jünger machen. Aber sie schienen den Angriff bemerkt zu haben, denn nun kamen sie auf die Prinzen und Múria z u.
Worte!, rief Ergil. Das führt zu nichts. Die Wächter sind jung und alt zugleich. So können wir ihnen nicht beikommen.
Aber wie dann? Sie kommen näher…
Jetzt hab ich’s!, fiel Ergil seinem Bruder ins Wort. Siehst du, wie sie sich bewegen?
Twikus bückte s i ch, packte Múria unter den Achseln und begann sie von den heranrückenden Wächtern wegzuzerren. Klar sehe ich das. Sie kommen im Gleichschritt wie eine Phalanx Soldaten, die uns jeden Moment…
Sie sind wie wir! Die Erkenntnis ließ Ergils Gedanken im
Bewusstsein des Bruders regelrecht explodieren.
Twikus keuchte, während er Múrias Körper von den Wächtern wegschleppte. Die drei schienen keine Eile zu haben. Du willst doch wohl damit nicht sagen, sie seien Sirilimzwillinge… oder - drillinge?, fragte er ungläubig.
Nein, ich meine das nicht wortwörtlich, aber es gibt nur einen Wächter, der in drei Verkörperungen wohnt. Mit einem Mal war für Ergil alles sonnenklar. Sein Gegner konnte nicht aus Fleisch und Blut sein, wie die fehlgegangenen Pfeile unzweifelhaft bewies e n hatten.
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