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Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Titel: Mirad 01 - Das gespiegelte Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Er war ein böser Geist, der sich aus hinterhältiger Berechnung in die drei Gestalten verwandelt hatte, um seine Opfer zu täuschen, zu verwirren, ihre Widerstandskraft zu schwächen und sie mit eiskalter Angst zu  lähmen. Seine Gestalten stehen für alles, was du und ich waren, was wir sind und was wir sein können, erklärte Ergil aufgeregt. Jung und alt, schön und hässlich, gut und böse – aber vergiss nicht, wir haben einen freien Willen! Wir können zwischen habgierigem Speichelleckertum oder aufopferungsvoller Hingabe wählen, zwischen Sklaverei oder gerechter Führerschaft.
    »Ja!«, hauchte Twikus. Endlich begriff auch er, welche Bestimmung ihnen das Schicksal… nein, keine unbeseelte Vorherbestimmung hatte ihnen diese Rolle zugewiesen, sondern De r -de r - tut - wa s- ihm - gefällt. Er »sorgt für ein Gleichgewicht, in dem der freie Wille jedes Einzelnen darüber entscheiden kann, auf welcher Seite er stehen möchte…« Jetzt erst verstand er die Worte des Äonenschläfers Olam.
    »De r - der - tut - was - ihm - gefällt«, wiederholte e r flüsternd.
    Die drei Verkörperungen des Wächters verharrten mitten im Schritt. Weil Menschen normalerweise nicht so auf der äußersten Zehenspitze stehen bleiben können, sah dieses Innehalten mehr als grotesk aus. Zum ersten Mal spiegelte sich auf den drei Gesichtern eine Regung, die nicht aus Hohn oder Verachtung für ihre Opfer bestand, sondern sich mit der eigenen Not beschäftigte. Der Wächter war erschrocken. Er hatte Angst.
    Davon bestärkt sprach Twikus seine Empfindungen jetzt mutig aus. »Es geht hier nicht um mich, sondern um Den - der- tut - was - ihm - gefällt. Solange ich auf seinem Weg des Lichts bleibe, könnt ihr mich nicht in die Dunkelheit ziehen.«
    »Dann geh doch deinen Weg«, sagte in verführerischem, aber kühlem Ton der Schönling.
    »Ja, räche dein e Elter n !«, fügte das Mädchen mit einer Traurigkeit hinzu, als sei es selbst des Vaters und der Mutter beraubt worden.
    Die Greisin kicherte nur.
    Torlunds Sohn schüttelte entschieden den Kopf. »Rache liegt in den Schatten, nicht im Licht. Wikanders Unrecht muss ein Ende haben, allein darum geht es. Die Menschen in Soodland und den anderen Königreichen sollen nicht länger in Knechtschaft, sondern wieder in Freiheit, Frieden und Sicherheit leben. Wollt ihr mich daran hindern?«
    Der Wächter zögerte. Seine Hand wanderte – kindlich jung, in blühender Manneskraft und zitternd greisenhaft – zum Kinn. In den drei so grundverschiedenen Gesichtern spiegelte sich ein und dieselbe Frage: Wie kann ich die drohende Niederlage noch abwenden?
    Nach dem furchtlosen Aufbegehren seines B ruders war Ergil, sofern man einem Bewusstsein diese Fähigkeit überhaupt zubilligen mag, erstarrt. Twikus hatte etwas Wichtiges gesagt, das spürte er. Vielleicht konnten sie ja dieses Wesen aus Kind, Mann und Greisin nicht wie den geharnischten Vagabund Triga oder den Wagg Kawuzz besiegen – die waren beide ein Teil Mirads gewesen, was nach Olams Bekunden auf den Wächter nicht zutraf –, aber irgendwie musste der Unhold doch trotzdem in die Falten dieser Welt eingewoben sein… Ergils Geist sprühte geradezu vor Spannung. Wenn dem so war, sagte er sich, dann sollte es auch möglich sein, die Schwachstelle dieser Verkörperungen zu erfühlen…
    Du bist ein Genie!, rief er unvermittelt seinem Bruder zu. Schlagartig war ihm die Erkenntnis gekommen.
    Danke, aber ich habe keine Ahnung, was du meinst, erwiderte Twikus.
    Du sagtest eben, solange du auf dem Weg des Lichts bleibst, kannst du nicht in die Dunkelheit gezogen werden. Genial! Hast du dich nie gefragt, warum ein Wächter, der eine Königsfestung zu beschützen hat, sich darunter in einem Berg verkriecht?
    Weil das Böse die Dunkelheit sucht?
    Ja! Ich behaupte sogar, der Wächter kann das Licht nicht ertragen. Hört mir zu, Twikus und Nisrah, ich habe eine Idee.
    Gedankenschnell erklärte Ergil seinem Bruder und dem Weberknecht, was er vorhatte, und ehe der Wächter seine Unsicherheit überwinden konnte, flochten sie erneut ihre Kräfte zu einer Einheit. Das Herz der Zwillinge schlug heftig, als sich die Macht der »alten Gabe« in ihnen entfaltete. Vorhin hatte die eigene Angst sie an ihren Möglichkeiten zweifeln lassen, aber jetzt durchdrang ihr vereinter Geist mühelos den Fels, wie er zuvor auf der Suche nach der Sonne den Nebel durchwandert hatte. Bald fanden sie das Himmelslicht, es hatte seinen Zenit noch nicht erreicht.
    Twikus

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