Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
den letzten Stunden davor geschützt gewesen, aber jetzt zahlte er den Preis der damit einhergehenden mangelnden Feinfühligkeit. Eisige Angst kroch in ihm hoch. Was hatte Olam von den Wächtern unter der Sooderburg gesagt? »Ihre Stärke liegt allein in eurer Furcht.« Daran gemessen mussten die drei Grauhemden gerade enorm an Kraft gewinnen.
»Wie könnt ihr es wagen, unsere Ruhe zu stören?«, geiferte die Alte mit krächzender Stimme.
»Verzeiht. Das lag nicht in unserer Absicht«, erwiderte Múria respektvoll. Ihr Gesicht verriet, wie angespannt auch sie war.
»Was ist euer Begehr?«, fragte der Mann. Im Gegensatz zu der Greisin, deren Antlitz von Abscheu entstellt war, blieb seine Miene ausdruckslos. Ohne jedes Gefühl. Seine Stimme klang auf eine Weise kühl, die den Prinzen umso mehr frösteln machte.
»Wir verlangen Zutritt zum Haus unserer Väter«, antwortete Ergil. Die Ahnungslosigkeit der Wächter hielt er für falsch.
»So, so«, entgegnete das Mädchen glockenhell. Dem Aussehen nach konnte sie nicht älter als sechs Jahre sein. »Der jetzige Herr der Sooderburg hat uns aber nichts von Verwandtenbesuch gesagt.«
»UND DESHALB MÜSSEN DIE WÄCHTER EUCH ABWEISEN«, fügten alle drei im Chor hinzu. Der irgendwie eingeübt klingende B escheid dröhnte den Eindringlingen in den Ohren, dass ihnen schier der Kopf zu zerplatzen drohte. Dabei waren die Stimmen der Wächter nicht wirklich laut.
Múria trat einen Schritt zurück, direkt neben Ergil, und flüsterte: »Offenbar sind sie eine gut eing e spielte Truppe. Was solle n wi r tun?«
»Das weiß ich doch nicht«, zischte er.
»Versuch’s mit dem Schwert.«
Ergils Hand tastete nach dem Blütengriff.
»Wollt ihr uns etwa drohen?«, kicherte das kleine Mädchen und zeigte mit ausgestrecktem Arm nach oben. »Schaut selbst, wohin das führt. Sie hielten sich auch für klug…«
»… ABER DENNOCH WIESEN DIE WÄCHTER SIE AB«, ergänzte wieder der Chor.
Unversehens begannen die von der Decke hängenden Zapfen in einem rosigen Licht zu glühen. Die Blicke von Múria und Ergil mussten nicht lange dazwischen umherirren, bis sie eine ebenso überraschende wie erschreckende Entdeckung machten. Inmitten der Stalaktiten hingen Dutzende von gelblich braunen Käfigen, die wie durchbrochene Schalen großer stacheliger Früchte aussahen. Die meisten waren leer. In einigen lagen Knochen und Kleidungsreste von Namenlosen, die das Wächtertrio offenbar schon früher überwältigt hatte. Aber zwei waren mit Männern besetzt, die noch ziemlich unversehrt aussahen, wenngleich ihre graue Haut nichts Gutes ahnen ließ. Sie hingen wie betäubt in ihren stacheligen Gefängnissen. Oder wie tot.
Es waren Falgon und Dormund.
Múria stieß einen erstickten Schrei aus.
Ergil bemerkte aus den Augenwinkeln neben sich ihre wankende Gestalt und riss sich von dem Schauder erre g enden Anblick los, um sie zu stützen, aber als er ihre Hand berührte, schreckte er zurück. Múrias Haut war kalt wie Eis.
Entsetzt sah er in ihr Gesicht. Es wurde aschfahl. In ihren blauen Augen funkelte das Grauen. Schlagartig wurde ihm klar, was da geschah. »Wenn ich dich in Sicherheit weiß, dann brauche ich mich nicht zu fürchten.« Mit diesen Worten hatte Múria am Strand erklärt, warum sie für die Wächter eine »harte Nuss« sei. Jetzt musste sie ihren Liebsten in diesem Käfig sehen, tot womöglich oder zumindest dem Tode nah. Als hätten die Wächter gewusst, worin Múrias größte Verletzlichkeit lag, waren sie zielgenau gegen diesen schwächsten Punkt vorgegangen.
»Hättest nicht so große Reden schwingen sollen«, schnarrte die Alte.
»JETZT MÜSSEN DIE WÄCHTER EUCH ABWEISEN«, wiederholten die drei ihre magische Formel.
Múrias Haut sah unterdessen aus wie grauer Stein. Ihre Beine versagten ihr den Dienst und Ergil konnte nichts für sie tun, als ihren Sturz aufzufangen. Behutsam ließ er sie zu Boden sinken.
Helft mir, Twikus und Nisrah!, flehten seine Gedanken.
Wähle die Richtung, wir geben den Schwung, meldete sich zwar begeistert der Weberknecht, aber die Antwort des eigenen Bruders klang alles andere als euphorisch.
Wie denn?
Erst Tusan und jetzt die anderen drei G e fährten – wie soll ich ihr Leiden mit ansehen, ohne um sie zu fürchten?
Wir dürfen keine Angst zeigen, sonst geht es uns genauso, warnte Twikus.
Das war leicht gesagt. Ergil liebte seinen Ziehvater zwar auf eine andere Weise als Múria, aber wohl kaum weni g er innig.
Schon glaubte
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