Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
den Kopf gehen ließ. Früher hätte ihm sein Ziehvater einfach befohlen, in die Stadt zu reiten, nun fragte er nach seiner Meinung. Falgons Verwandlung vom Beschützer zum Begleiter hatte sich schneller vollzogen, als es seinem Zögling recht war. »Es ist wohl besser, den nächsten Morgen abzuwarten, bevor wir weiterreiten«, gab Twikus unwillig nach. »Kennst du in der Stadt eine sichere Unterkunft?«
Der Alte ließ mit keiner Miene erkennen, wie er über das rasche Einlenken seines jungen Gefährten dachte. »Ja. Wir werden nicht in die Herberge Zum Großen Alten gehen, dem Ort meiner verschwiegenen Treffen mit Triga, sondern ins Haus einer treuen Seele, das ich gelegentlich ohne Wissen des Verräters besucht habe. Der Mann heißt Dormund. Er ist ein begnadeter Schmied.«
»Was macht dich so sicher, von ihm nicht ebenso hintergangen zu werden wie von Triga?«
»Vertrauen heißt Enttäuschungen zuzulassen. Wer allen nur misstraut, wird niemals Freunde finden.«
»Auf Gefährten, die mir den Kopf abhauen wollen, kann ich verzichten.«
»Warte, bis du Dormund kennen gelernt hast. Er ist nicht von dieser Sorte und er dürfte auch kaum so leicht zu korrumpieren
sein, wie Triga es offenbar gewesen ist. Im Gegensatz zu diesem hat der Schmied nie ein hohes Amt bekleidet noch daran irgendwelches Interesse gezeigt. Er ist ein einfacher Mann, der mit seinem schlichten Leben zufrieden ist. Das macht es schwer, ihn zu bestechen. Außerdem besitzt er keine Familie mehr, mit der man ihn erpressen könnte. Sie ist bei der Schlacht um die Sooderburg getötet worden. Deswegen hasst er Wikander wie die Pest. Wie würdest du einen solchen Mitstreiter einschätzen?«
»Ich denke, wir können ihm vertrauen. Was hältst du davon, Kira?«
»In Menschendingen bin ich wenig bewandert. Ich folge euch, wohin ihr auch geht.« Sie schmunzelte. »Notfalls kann ich mich ja verkrüm e ln.«
Falgon beschleunigte das Tempo seines Pferdes und rief:
»Dann kommt, meine Freunde. Der Tag ist noch jung. Ich bin gespannt, was er uns noch bringen wird.«
7
DIE STADT DER WANKENDEN TÜRME
Fungor gehörte zu den entlegensten Winkeln im Herzland von Mirad. Die Stadt lag in einer Talsenke, welche im Osten steil in die Dinganschlucht abfiel, im Süden an den Grünen Gürtel grenzte und im Westen an den Großen Alten. Im Anbeginn der Zeit hatte das riesige Meer aus Pflanzen eine Einheit gebildet. Dann kam e n die Sirilim und besiedelten den fruchtbaren Urwald, der inzwischen nur mehr eine Wüste aus grauen, abgestorbenen Stämmen war. Jenes nordöstliche Gebiet jedoch, das sie selbst Gandim - zafaroth nannten, betraten sie nicht. Ein Volk von der Stärke und Weisheit der Sirilim konnte den Wald nur aus einem Grund meiden: Er musste verzaubert sein. Diese Meinung wurde über Äonen hinweg fester Bestandteil menschlichen Denkens. »Wenn du nicht gehorchst, dann schicke ich dich in den Großen Alten.« Mit derlei Versprechungen pflegten Erwachsene bis auf diesen Tag kleinen Kindern Gehorsam beizubringen.
Aus der Nähe bot Fungor ein befremdliches Bild. Zahlreiche Türme ragten über die Stadtmauer hinaus und alle waren schief. Mehrheitlich neigten sie sich nach Westen. Je länger Ergil auf die schlanken Bauwerke starrte, desto mehr drängte sich ihm jedoch der Eindruck auf, sie schwankten im Wind, nur mit kaum wahrnehmbarer Langsamkeit. Ein Turm, der sich eben noch gefährlich weit geneigt hatte, konnte nach gewisser Zeit wieder kerzengerade stehen. Oder umgekehrt. Falgon bemerkte das sprachlose Staunen des Jungen.
»Was du da siehst, sind die Wahrzeichen des Reichtums und der Wehrhaftigkeit der hier ansässigen Geschlechter.«
Ergil blinzelte, als wolle er einen allzu verrückten Traum abschütteln. »Nein, was ich da sehe, ist ein Wald aus schwankenden Halmen, die aussehen, als bestünden sie aus Ziegelsteinen.«
»Ich kann dir versichern, die Geschlechtertürme sind wie jedes andere Haus aus Stein gemauert. Ihr Schaukeln ist nur eine Illusi on.«
»Die Dinganschlucht?«
»So ist es. Sie beginnt kurz hinter der westlichen Stadtmauer. Ihr Sog ist hier so stark, dass alle Häuser krumm und schief aussehen, obwohl sie doch mit Lot und Wasserwaage errichtet wurden. Wenn wir erst durch das Tor gekommen sind, wirst du e s sehen.«
»Eine Stadt der wankenden Türme«, murmelte Ergil unbehaglich.
»Du überraschst mich immer wieder. So nennt man sie tatsächlich.«
»Vielleicht sollten wir sicherheitshalber vo r der Mauer
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