Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
übernachten.«
»Damit uns die Türme nicht auf den Kopf fallen? Keine Sorge. Die meisten von ihnen schwanken schon seit hunderten von Jahren. Ab und zu bricht zwar mal einer zusammen, aber das wohl eher, weil er baufällig geworden ist.«
»Wie beruhigend!«
»Warts ab. Wenn du heute Nacht die Augen schließt, wirst du froh sein, ein Tor aus Eisenholz zwischen uns und unserem grauen Schatten zu wissen.«
Ergil hegte erhebliche Zweifel, ob er überhaupt in seiner ersten Nacht außerhalb des Waldes ein Auge zutun würde. Um nicht wie ein erbärmlicher Feigling dazustehen, nickte er nur und ließ seinen Blick zu dem bunten Treiben eine Viertelmeile vor der Stadtmauer schweifen, in das sie bald eintauchen würden.
Der »wilde Markt« von Fungor bot sich den Reisenden aus der Entfernung als unüberschaubares Gewusel dar. Lan g e nahm niemand von den zwei in rotbraunem Rauleder gekleideten Reitern Notiz, die sich dem Ort auf der Pandorstraße näherten, dem einzigen Handelsweg, der Fungor mit dem Rest der Welt verband. Egal ob Bürger der Stadt, ansässiger Bauer oder Reisender – eine Person wurde für die illegalen Händler erst von dem Moment an interessant, wenn sie sich als potenzieller Kunde zu erkennen gab.
»Was macht der Sindran?« Wohl schon zum zehnten Mal fragte Ergil das Vögelchen, das gerade von einem Erkundungsflug auf seine Schulter zurückgekehrt war. Schekira hatte sich, wie sie sich ausdrückte, »stadtfein« gemacht und trug jetzt das blau, grün und orange schillernde Gefieder eines Eisvogels.
»Er hat sich zurückfallen lassen.«
»Wie erwartet.« Der Junge klang nicht wirklich beruhigt. Falgon deutete auf die wirre Ansammlung aus Fässern, Käfigen und Kisten, Karren, Zelten und Ständen. »Wenn mich meine alten Augen nicht trügen, sehe ich da die Auslagen eines Tuchhändlers. Nichts wie hin.«
Die beiden Reiter stiegen ab und führten ihre Pferde durch das Gewühl von Käufern und Verkäufern, die bisweilen ziemlich hitzige Preisverhandlungen führten. Überhaupt war der Lärm ohrenbetäubend: Männer wie Frauen schrien, lachten und schimpften, Tiere krähten, mähten und blökten. Ergil kam aus dem Staunen nicht heraus. Abgesehen von seinem Ziehvater und der Mörderbande im Wald waren dies die ersten Menschen, die er zu Gesicht bekam. Deren Körperausdünstungen vermischten sich mit denen des feilgebotenen Viehs zu einem Schwindel erregenden Gestank.
Der Junge bemerkte zwei geharnischte Soldaten, die seelenruhig zwischen dem Volk hindurchspazierten. Versonnen zupfte er an seiner Unterlippe. »Oheim?«
»Ja?«
»Wenn der Markt hier gegen das Gesetz ist, warum lassen die Stadtväte r ih n dan n zu?«
»Weil sie nur ungern auf die Bestechungsgelder der wilden Händler verzichten möchten. Die ehrenwerten Herren im Stadtrat von Fungor verdienen mehr an diesem Geschacher und Gefeilsche als an den ordentlich abgeführten Marktgebühren. Um den Zorn der Zünfte zu besänfti g en, erlegen sie den Händlern hier draußen ein paar Einschränkungen auf, nehmen hin und wieder auch einen mit dem Handgeld allzu knausrigen fest, aber ansonsten lässt man sich gegenseitig in Ruhe.«
Ergil schüttelte ungläubig den Kopf. Sein von Falgon geschultes Verständnis für Anstand und Sitte sträubte sich gegen diesen Wildwuchs, der auf dem Boden von Gier und Habsucht wucherte.
Inzwischen hatten sie den Stand des Tuchhändlers erreicht, der auf einem hohen Schemel vor seinen Auslagen kauerte wie eine Kröt e , die nur darauf wartete, ihre Zunge einem vorbeischwirrenden Kaufinteressenten entgegenzuschleudern. Als er die beiden Waldläufer nahen sah, erhob er sich, was allerdings kaum auffiel, da er ein eher kleiner Mann von hagerer Statur war, dessen schwarze J a cke und Hose genug Raum für Erweiterungen in alle Richtungen boten. Sein Haupthaar war nur mehr ein Rest grauschwarzer glänzender Kringel, die in seltsamer Unregelmäßigkeit die Kopfhaut bevölkerten. In seinen dunklen Augen glitzerte der untrügliche Instinkt des erfahrenen Jägers. Die große Nase, schmal und gebogen, glich einem susanischen Zierdolch; sie war zweifellos das Prunkstück in dem ansonsten eher unspektakulären Gesicht. Das spitze, mit dunklen Bartstoppeln übersäte Kinn konnte da nicht mithalten, e s wirkte eher wie von einem Biber angenagt. Der Kaufmann stand nun leicht vorgebeugt, als wolle er seine Kundschaft jeden Moment anspringen. Er bot nicht nur unverarbeitete Stoffe, sondern auch Beinkleider, Hemden,
Weitere Kostenlose Bücher