Miss Emergency
auch zum ersten Mal.« So, das MUSSTE ich einfach haben! Sehr gerade und ohne mich noch mal umzusehen, verlasse ich das Zimmer.
Auf dem Flur überkommt mich sofort bittere Reue. Niemals drohen, nie ängstigen! Oberstes Arztgebot. Selbst bei Patienten, die sich selbst medikamentieren, Symptome erfinden oder sich trotz halb amputierter Lunge zu Tode rauchen, darf man nur warnen â und immer ermutigen. Und was tue ich?! Aus dem Krankenzimmer hinter mir höre ich es klingeln. Na toll, jetzt ruft Herr Ritter nach einer Schwester, die nach dem Oberarzt schickt, damit der Patient sich beschweren kann. Dann erfährt der Chef, dass die Anfängerin, die ihm heute Morgen im Aufzug so aufdringlich präsentiert hat, was sie dem Krankenhaus zu bieten hat â nämlich nichts auÃer einem Paar schöner Beine â, soeben ihren ersten Patienten bedroht hat. Am besten, ich verlasse diesen Ort der Schande sofort und auf Nimmerwiederkehr. Schule ich eben um auf Verkäuferin, andere sind damit auch glücklich.
Eine kleine Omi reiÃt mich aus meinen Gedanken. Sie sitzt auf dem Flur in einem der gelblichen Schalenstühle, hustet fürchterlich und krümmt sich wie ein hilfloser Wurm um die Handtasche in ihrem SchoÃ. Ich spreche sie an. Hat sie Schmerzen? Die Omi nickt, wiegelt aber sofort wieder ab.
»Es wird sich bestimmt bald jemand um mich kümmern. Die Schwester hat gesagt, dass gleich ein Arzt kommt.« Gemeinsam spähen wir den tristen Krankenhausflur hinunter. Niemand ist zu sehen. Wie lange ist dieses Versprechen denn her? Die Omi lächelt ängstlich: »Höchstens eine halbe Stunde.« Und dann hustet sie wieder erbarmungswürdig. Eine halbe Stunde? Mit diesem Husten und den Schmerzen beim Atmen ist eine halbe Stunde Wartezeit eine probate Foltermethode für Schwerverbrecher. Mich beschleicht der Verdacht, dass man die Frau schlicht vergessen hat. Davon sage ich der Omi natürlich nichts â selbst ich kann aus Fehlern lernen, wenn sie nicht länger als 10 Minuten her sind!
Ich knie mich hin und fühle den rasenden Puls der armen Frau, die unter ihren Hustenanfällen entkräftet nach Luft schnappt. Wahrscheinlich hat sie hohes Fieber. Die Omi stöhnt auf. Sie hat starke Schmerzen. In meinem Hirn blättern Lehrbuchseiten auf. Eine typische Pneumonie äuÃert sich mit Husten, Brustschmerzen, Atemnot und Fieber. Alles klar. Meine erste Diagnose. Sicher und souverän gestellt â und im Handumdrehen. Ich hatte erwartet, diesen Moment mit Sekt und Plätzchen zu feiern â doch jetzt ist an stolze Selbstlob-Partylaune nicht zu denken. Die Frau braucht schleunigst Hilfe. In meinem Kopf rattert es. Sie braucht Antibiotika und sollte dringend in ein Bett; gerade ältere Patienten sind anfällig für fiese Folgekrankheiten. Und vor allem braucht die Frau ein Schmerzmittel, das ist ja nicht mit anzusehen. Am Ende des Ganges steht ein verwaister Rollstuhl. Ich verfrachte die röchelnde Frau hinein. In diesem Krankenhaus muss sich keine kleine Omi schmerzverzerrt auf einem Flur-Stühlchen krümmen, nur weil sie zu schüchtern ist, sich bemerkbar zu machen. Nicht, solange ICH da bin! Lena Weissenbach, die Ãrztin mit Herz, Retterin aller gequälten, scheuen Omis. Ich weiÃ, eben noch wollte ich den ersten Arbeitstag unter »versagt« ablegen und Verkäuferin werden â aber vorher werde ich diese Frau retten.
Hinter mir klackern energische Schritte über den Gang. Ach,verdammt, Herr Ritter! Den hatte ich ja ganz vergessen. Bestimmt kündigt das Geräusch den Oberarzt an, der sich gebieterisch dem Tatort Krankenzimmer nähert, um von meiner unprofessionellen Entgleisung gegen den verängstigten Patienten zu erfahren. Ich kann gerade nicht gucken, denn die Transportsicherung der Omi im Rollstuhl fordert meine ganze Aufmerksamkeit. Ich hänge über dem Rollstuhl und hadere mit der GurtschlieÃe, als die Schritte hinter mir verstummen.
»Was tun Sie denn da?«
Na klar! Die sonore Stimme des Oberarztes, die sich mir seit heute Morgen so eingebrannt hat, dass sie die penetrante Melodie meines Weckers ersetzen könnte. Und was kriegt der Chef zu sehen, als er zum zweiten Mal an diesem Tag seiner neuen Anfängerin begegnet? Natürlich: meine schönen Beine.
»Was für ein reizendes Wiedersehen!«, sagt Dr. Thalheim. Zu meinem Hintern.
B ombig, Lena, was kann dir
Weitere Kostenlose Bücher