Miss Emergency, Band 4: Miss Emergency , Operation Glücksstern (German Edition)
Spargelgerichte in 17 Variationen auf einem Extrablatt, das vorne im Kunstledereinband einer Speisekarte steckte.
Vielleicht unterhielten wir uns an diesem Abend offener, weil meine Mutter nicht dabei war. Obwohl unser Gespräch so anfing wie alle anderen, die wir in den Monaten davor zu dritt geführt hatten. Während ich ein Stück Schinken zerpflückte und die Fetzen um den Tellerrand verteilte, käute ich wieder, was mir durch den Kopf ging. Besser gesagt: das, von dem meine Eltern erwarteten, dass es mir durch den Kopf gehen müsste.
Es war die Zeit, in der mich alle fragten: »Und, was willst du werden?« Als sei ich so eine Art Insektenlarve, die sich noch entpuppen muss. Also erzählte ich wieder von den Bewerbungsbögen der Münchner Schauspielschule, vom Tag der offenen Tür an der Uni und einer Jura-Vorlesung, bei der es um den Unterschied zwischen Geld- und Freiheitsstrafen gegangen war. Von Bachelor- und Master-Abschlüssen, als stände ich an der Tafel undwürde abgefragt. Danach erwähnte ich einen Studienzweig namens Online-Marketing. Ich konnte mir nichts Genaues darunter vorstellen, hoffte aber, meinen Vater zu beeindrucken. Ich fand das ganze Projekt »Erwachsenenleben« reichlich verwirrend. Ungefähr, als müsste man sich beim Chinesen etwas aus einer zentimeterdicken Speisekarte aussuchen, die zu allem Überfluss auch noch auf Chinesisch gedruckt war.
»Du weißt immer noch nicht, was du willst?«, unterbrach mein Vater mich, aber seine Stimme klang nicht ungeduldig.
»Am liebsten ganz weit weg«, hörte ich mich sagen und war erstaunt, als mir die Tränen kamen. Er nahm meine Hand und zog sie über dem weißen Spitzendeckchen auf der Tischplatte zu sich.
»Jenny«, sagte er, »ich hatte neulich eine Idee. Was hältst du davon, nach dem Abi für ein paar Wochen nach New York zu fliegen?«
»Hast du denn so lange Zeit?«
Er schüttelte den Kopf und sah mich an. »Nein. Ich bleibe zu Hause.«
»Ich soll ganz allein Urlaub in New York machen?«
»Ich glaube, du brauchst ein bisschen Abstand. Abstand von Freiburg, von deiner Mutter und mir. Und vielleicht auch von Max. Manchmal sieht man sein eigenes Leben klarer, wenn man einen Schritt zurücktritt. Wie ein Bild, das man erst aus der Distanz erkennen kann.«
Ich verstand nicht, wovon er redete.
»Was hat Max damit zu tun?«
»Manchmal habe ich den Eindruck, dass du nicht mehr so glücklich mit ihm bist.«
Er sah mich nicht an. Ich ihn auch nicht.
»Wo soll ich denn in New York unterkommen?«, fragte ich nach einem Moment unangenehmen Schweigens.
»Ich kenne jemanden dort. Eine alte Freundin von mir.«
So hörte ich zum ersten Mal von Anne.
»Es muss 1978 gewesen sein, oder so«, erzählte er. »Jedenfalls zu einer Zeit, in der Männer längere Haare hatten als Frauen und alle diese komischen, unförmigen Fellwesten trugen. Anne stand vor mir in der Schlange am Check-in-Schalter im New Yorker Busbahnhof. Ich hatte gerade mein Diplom gemacht, hatte noch keinen Job und ließ mich sechs Wochen ziellos durch Amerika treiben.«
Er fuhr mit seinen Fingernägeln über den grün geriffelten Stiel seines Weinglases. »Anne und ich, wir waren beide auf dem Weg nach San Francisco. Sie fiel mir sofort auf mit ihren blonden Haaren und dem knallroten Batikrock. Ich konnte es kaum fassen, dass sie sich im Bus zu mir setzte.«
»Hattest du was mit ihr?«, fragte ich. Im gleichen Augenblick schämte ich mich ein bisschen für meine direkte Frage.
Mein Vater grinste und strich mit den Fingern durchseine grau-braunen Strähnen. »Nein, hatte ich nicht. Leider nicht. Obwohl ein Greyhound-Bus ein paar Tage braucht, einmal quer durchs Land, und ich mir ein paar Hoffnungen machte. Aber sie hatte gerade nichts am Hut mit Männern. Sagte sie jedenfalls. Ich weiß nicht mehr alle Einzelheiten, auf jeden Fall war es eine traurige Liebesgeschichte. Ein untreuer Mann und ein übler Streit zum Schluss, bei dem es zu einem Unfall kam. Aber frag mich nicht, was genau passiert ist. Anne wollte eine Freundin in Kalifornien besuchen, um auf andere Gedanken zu kommen. Ich hab mich gewundert, dass sie unbedingt meine Adresse haben wollte, als wir in San Francisco ankamen. Sie sagte, es habe ihr noch nie jemand so zugehört wie ich und wir sollten uns unbedingt schreiben. Dabei konnte ich gar nicht so viel zu ihrer Geschichte sagen, weil ich nie besonders gut in Englisch war. Im Gegensatz zu dir.«
»Vielleicht hat sie das ja deshalb gesagt. Mit dem Zuhören, meine
Weitere Kostenlose Bücher