Miss Emergency, Band 4: Miss Emergency , Operation Glücksstern (German Edition)
ich. Weil du einfach nicht wusstest, was du antworten solltest. Und sie dachte, du bist besonders tiefsinnig.«
Er drückte über den Tisch hinweg meinen Oberarm. »Ich hätte nicht erwartet, dass ich wirklich wieder von ihr höre. Amerikaner, die vergessen doch Freundschaften genauso schnell, wie sie sie schließen. Aber drei Monate später landete ein dicker Brief mit einem New Yorker Absender in meiner Studentenbude. Sie war zu einem Typen nach Queens gezogen. Ich weiß noch genau,dass ich mich gleichzeitig gefreut habe und ein bisschen beleidigt war. Weil sie noch an mich gedacht hat, aber scheinbar schon wieder in festen Händen war. Dabei hatte ich ja gar keinen Grund, eifersüchtig zu sein.«
Er stützte seinen Kopf in die rechte Hand und lächelte versunken. »Meine alte Brieffreundin Anne. Wir haben uns nie wiedergesehen. Aber aus den Augen verloren haben wir uns auch nie. Das letzte Mal hat sie mir zu Weihnachten geschrieben, zum ersten Mal seit etwa fünf Jahren.«
Ich schüttelte den Kopf. Briefe. In Briefumschlägen. Aus den USA. Wie groß die Welt damals gewesen war und wie groß sie für manche Leute immer noch zu sein schien.
Statt sich im Internet zu verlinken, über ein Netzwerk Fotos auszutauschen, alltägliche Neuigkeiten zu posten oder sich zu mailen, hatte mein Vater damals auf einen handgeschriebenen Brief gewartet. Und dreißig Jahre später hatte die Frau wohl noch immer nicht mitbekommen, dass man in Kontakt bleiben konnte, ohne dass Bäume dafür sterben mussten.
»Und?«, fragte ich. »Was schreibt sie?«
»Der Kerl aus Queens, den sie irgendwann geheiratet hat, lebt schon länger nicht mehr. Aber ihr Brief klang nicht traurig. Sie führt das gemeinsame Lokal weiter, und das scheint gut zu laufen.«
»Eine Bar?«
»Eher ein Restaurant. Ein Diner. Ich könnte sie fragen, ob du bei ihr wohnen kannst. Vielleicht für vier oder sechs Wochen.«
Bei dem Wort Diner dachte ich an einen chromblitzenden Tresen, an Kellnerinnen in rosafarbenen Kitteln und Jungs in schwarzen Lederjacken, die aussahen wie James Dean. Ich konnte meine Begeisterung schwer verbergen.
Gleichzeitig konnte ich mir sofort Max’ Gesicht vorstellen, wenn ich es ihm sagen würde. Wie er sich schief auf die Unterlippe beißen würde, wie immer, wenn er nach Worten suchte und nicht wusste, was er von etwas halten sollte.
In einem Punkt war ich ganz sicher. Er würde nicht versuchen, mich zurückzuhalten. Max ließ mir viele Freiheiten.
Manchmal gefiel mir das sehr. Manchmal überhaupt nicht.
»Und du glaubst, wenn ich eine Zeit in New York verbringe, wird mir klarer, was ich danach machen will?«
»Nicht automatisch«, sagte mein Vater noch. »Es liegt an dir. Ich bin dir nicht böse, wenn du zurückkommst und dich immer noch nicht entscheiden kannst. Sieh’s mal so: Das ist mein Abiturgeschenk. Wenn es dich weiterbringt, umso besser.«
Als wir das Lokal verließen, drückte er mir den Autoschlüssel in die Hand.
»Aber ich bin noch nicht so oft nachts gefahren«, sagte ich.
»Macht nichts«, sagte er. »Erstens musst du es irgendwann lernen. Und zweitens bin ich bei dir.«
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