Miss Seeton riskiert alles
Worte fielen ihr ein: »Wir treffen uns im 10/20. Wenn nicht, dann macht es auch nichts. Es war nie wichtig. Wir sind fertig.« Starke Anspannung förderte nicht gerade vernünftiges Denken. Für Deirdre war es von vorrangiger Bedeutung, diesem neuen Befehl, zur angegebenen Zeit an einem bestimmten Ort zu sein, zu gehorchen und so ihr mangelndes Einfühlungsvermögen wiedergutzumachen. Irgendwie wußte sie, daß spätere Erklärungen – selbst wenn sie die Chance dazu bekam und sie berechtigt waren – lahm klingen und niemals die gleiche Wirkung haben würden. Sie sehnte sich ganz einfach schrecklich nach Tom, und trotz strenger Selbstbeherrschung rann ihr gelegentlich eine Träne über die Wange.
Seit man Miss Seeton so schmählich behandelt hatte, war in den endlos erscheinenden Stunden des Fahrens kein Wort mehr über ihre Lippen gekommen. Es gab auch nichts mehr zu sagen. Mit dem Mann zu reden war offensichtlich Zeitverschwendung. Das würde Deirdres Lage nur noch verschlechtern. Aus dem, was dieser miserable Kerl gesagt hatte, entnahm sie, daß es in ihrer jetzigen unangenehmen Lage keineswegs um sie selbst ging. Sie war nur zufällig hineingeraten. Besser, sie wartete, bis sie auf jemanden mit mehr Autorität stieß. Dem würde sie ganz bestimmt die Meinung sagen.
Mittlerweile hatte ihre Sympathie für die Kenhardings und die Empörung über die völlig lächerliche Situation eine Stimmung in ihr erzeugt, die frühere Schüler vielleicht »ein schwelendes Feuer« genannt hätten. Sie sah zu Deirdre hinüber, um das Mädchen zu beruhigen, bemerkte das verräterische Glitzern ihrer Tränen und begann innerlich zu kochen.
Als die Verkehrsampel grünes Licht gab, bog der Wagen rechts ab. Wieder sah Miss Seeton hoch oben auf einem Gebäude eine orangefarbene Neonreklame: MUT ist die Antwort.
Natürlich. Wie töricht, daß sie auch nur einen Augenblick lang abergläubische Anwandlungen gehabt hatte. Dies konnte nur eine der modernen Reklameanzeigen sein, deren sich die Kirche heute bediente.
Der Wagen fuhr schneller.
»Nach links!« schrie der Mann mit der Pistole. »Hier nach links, du Idiot!«
Da dem Fahrer nur wenig Raum blieb, kurvte er scharf nach links. Die rechten Wagenräder fuhren auf eine Verkehrsinsel, und die drei Fahrgäste wurden zur einen Seite geschleudert.
Während sie sich aufrichteten, versuchte Miss Seeton instinktiv, ihren übel zugerichteten Hut gerade zu setzen. Zum dritten und letzten Mal wurde ihr ein Zeichen gegeben. Über einem Wirtshaus, das teilweise im Schatten der gegenüberliegenden Gebäude stand, lugte die bruchstückhafte Botschaft hervor:… en MUT.
Ohne noch weiter über Aktion und Reaktion nachzudenken, gehorchte Miss Seeton dem Befehl von oben. Sie faßte Mut und ihre Hutnadel und stieß die letztere mit Hilfe des ersteren dem bewaffneten Verbrecher in die Hand.
Ein Schmerzensschrei, ein Knall, und die Kugel, die dem Fahrer durch das Genick gegangen war, zerschmetterte die Windschutzscheibe. Deirdre riß die Pistole an sich, ehe ihr Entführer begriff, was eigentlich geschah. Inzwischen schlingerte der Wagen kreuz und quer durch den Verkehr, während Bremsen quietschten, gehupt und geflucht wurde, fuhr unter dem Geschrei der auseinanderstiebenden Fußgänger auf den Bürgersteig, zerschlug mit lautem Getöse ein Schaufenster und kam in einem Geschäft zum Stehen.
Unter den ersten, die den Ort der Verwüstung erreichten, war ein Polizist, der gerade seine Runde machte. Er drängte sich durch die immer größer werdende Menge, ignorierte zunächst Proteste, Ausrufe und Erklärungen, stieg vorsichtig über die Glasscherben hinweg und betrat den Laden. Die Scheinwerfer waren durchgebrannt, und der Wagen selbst verhinderte, daß genügend Licht von der Straße hereinfiel. In diesem Halbdunkel schien es zunächst, als sei der Fußboden von Chez Charbotte mit Opfern der Katastrophe besät – als hätte ein Kind in einem Wutanfall alle Puppen zu Boden geschleudert. Ein Mann lehnte über dem Steuerrad, eine Tür hing offen. Der Rücksitz war leer. Die Gestalt eines Mädchens lag zur Hälfte verdeckt unter dem Wagen. Der Beamte kniete nieder und faßte sie unter den Armen. Der Körper war steif. Als er ihn aufhob, machte der Hals eine seltsame Bewegung, das lange helle Haar fiel ab, der Kopf hinterher. Überrascht fuhr der Beamte hoch und hielt nur noch die Arme in den Händen, während ihm der Torso mit einem hohlen Ton vor die Füße fiel. Er fluchte leise: von einer
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