Miss Seeton riskiert alles
verschiedenen Gelegenheiten zur Zielscheibe des Spottes gemacht.
Ein Regiment des Schreckens setzte voraus, daß die Menschen Furcht hatten, und diese Furcht mußte von Dauer sein. Jeder Widerstand mußte gebrochen, jeder Ungehorsam bestraft werden. Kein Diktator konnte es sich erlauben, seine Autorität in Frage stellen zu lassen, da der beginnende Zweifel schließlich zur Revolution führte, die von Haß und Neid genährt wurde. Noch gefährlicher war Spott. Gespött konnte die Fundamente eines Reiches sprengen.
Miss Seeton hatte gegen alle diese Punkte verstoßen. Die Demütigungen, die sie ihm angetan hatte, erforderten es, daß Thatchers Rechtsauffassung nicht nur in die Tat umgesetzt wurde, sondern daß er persönlich dafür sorgte, daß es auch geschah.
Er hatte seine eigenen Informationsquellen. Obwohl er den Schuldigen noch nicht kannte, wußte er doch, daß die Polizei vor dem Überfall auf dem Dorffest von Plummergen gewarnt worden war. Dieses erste Anzeichen der Auflehnung bei seinen Leuten wäre vor einem Monat noch undenkbar gewesen. Auch würden ihn gewisse Mitglieder der Syndikatshierarchie mit Vergnügen aus seiner Stellung drängen, wenn es zu ihrem Vorteil wäre. Alles in allem wurde ihm klar: Die Situation erforderte eine Geste, eine kühne Geste! Er würde beweisen, daß er keinen Killer anheuern mußte. Er konnte im Notfall mit einer derartigen Situation selbst sehr viel wirksamer fertig werden. Es war nur wesentlich, sowohl die Welt wie die Unterwelt wissen zu lassen, wer Miss Seeton getötet hatte – und warum. Genauso wichtig war es, dafür zu sorgen, daß man ihm die Tat nicht beweisen konnte. Ein solches Vorgehen würde die erlittenen Nackenschläge wiedergutmachen, seinen Ruf festigen und dort Schrecken verbreiten, wo es nötig war.
Thatcher überlegte… Am besten auf ihrem eigenen Grund und Boden, in ihrem eigenen Haus und sehr publikumswirksam. Seine Anwesenheit in der Gegend konnte bekannt sein, aber er brauchte ein Alibi. Es durfte nichts bewiesen werden können, daß er mit der Tat etwas zu tun hatte. Den richtigen Augenblick abpassen, wenn sie nicht zu Hause war. Bei ihrer Rückkehr würde ... Thatcher überlegte weiter und war schließlich mit seinem Plan sehr zufrieden.
Seltsam, überlegte Miss Seeton, wie hoch man zu sein schien. Wenn man andere Leute auf dem Fahrrad beobachtete, sah es gar nicht so aus. Aber wenn man selbst im Sattel saß, schien der Erdboden plötzlich weit entfernt zu sein. Wirklich zuvorkommend von Lady Colveden, die zu einer Versammlung mußte und erst später zurückfuhr, sie und ihr Rad in Sir Georges Kombiwagen nach Brettenden mitzunehmen. Sie hatte Miss Seeton vor der Bank zu einer Besprechung abgesetzt, um die sie der Bankdirektor gebeten hatte. Mit dem Rad in die sechs Meilen entfernte Stadt zu fahren bedeutete, einen langen Hügel hinaufschieben zu müssen. Etwas ganz anderes war es bei der Rückfahrt, wie gerade jetzt. Abwärts brauchte man die Pedale überhaupt nicht – nur den Freilauf. Bei Miss Seeton war der Freilauf freier als üblich, und sie schlingerte mit immer größerer Geschwindigkeit die Straße hinab.
Mit welcher Erleichterung hatte sie bei der Bank erfahren, daß ihre Befürchtungen unrichtig waren und sie nicht etwa zu wenig Geld besaß, sondern nach Ansicht des Direktors eher zu viel und investieren sollte. Wie hatte sich doch ihr Leben geändert, seit sie Zeichnungen für die Polizei machte. Und wie dankbar sie war! Investieren? Da war sie nicht so sicher. Nach allem, was man so las, sanken die Kurse immer mehr. Und wenn man Einnahmen hatte, kassierte die Regierung das meiste davon. Besser, sie würde das Geld in praktische Geräte und Apparate stecken, die Arbeit ersparten, was Martha immer wieder vorschlug. Dann konnte man wenigstens sicher sein, für sein Geld eine Gegenleistung in Form von weniger Arbeit und größerem Komfort zu erhalten.
Bis hinein ins Dorf träumte Miss Seeton von elektrischen Bettdecken, Waschmaschinen und Mixern. In flottem Tempo fuhr sie die Dorfstraße entlang. Wie richtig war es zum Beispiel gewesen, Geld für ein Fahrrad auszugeben. Der Bus fuhr jetzt nur noch einmal wöchentlich nach Brettenden, und so war sie rechtzeitig zum Mittagessen zu Hause.
Martha Bloomer kam ihr an der Tür entgegen. »Ein Mann ist hier gewesen.«
»Ein Mann?« Miss Seeton fiel niemand ein, der sie besuchen könnte.
»Wenn er nicht Ausländer gewesen wäre, würde ich sagen, es war ein Gentleman«, gab Martha
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