Missing Link
ihrer Feldflasche ließ sie Wasser durch ihr Haar rinnen und strich danach die langen Strähnen aus dem Gesicht, wodurch ihre blauen Augen zu sehen waren, die viele ihrer Studienkollegen aus Princeton in wahre Verzückung versetzt hatten. Und wieder einmal war sie sich der Wirkung, die ihre Augen haben konnten, deutlich bewusst geworden, als ein paar Männer aus dem Stamm der Dogon, die sie für diese Ausgrabung eingestellt hatte, stehen geblieben waren, um einen Blick auf sie zu erhaschen. Für die Dogon erhöhte sich Samanthas Reiz auf Grund ihrer dominanten Position, die sie unter ihren Kollegen einnahm. Für sie musste eine Frau, die ihren weißen männlichen Gegenspielern solch ein Ansehen abnötigen konnte, eine »gute Magie« besitzen.
Sie rief ihnen etwas zu. Wegen ihrer begrenzten Kenntnis der Dogon-Sprache war es manchmal etwas holprig, aber sie hatte sich die wichtigsten Wörter angeeignet, um ihre Arbeit schnell und effizient zu erledigen. Die Männer schnappten sich ihre Körbe mit trockener Erde und entfernten sich von der Ausgrabungsstätte.
Samantha wusste, dass die Dogon sie für eine umsichtige und ehrliche Arbeitgeberin hielten, doch sie schienen sie immer noch zu fürchten. Die Dogon nannten sie Awa Zantu. Nach einigem Nachbohren erfuhr sie, dass man Awa in etwa mit »feurig« übersetzen konnte, und Zantu war der Name für einen kleinen wilden Dachs, der in der harten afrikanischen Erde lebte. Obwohl der Name nicht gerade schmeichelhaft war, störte sich Samantha nicht wirklich daran. Eigentlich mochte sie ihn.
»Sam!«
Ricardo Olivarez rannte den grasbewachsenen Hang hinauf und stolperte dabei fast über ein Sieb für kleine Knochen und Tonscherben. Samantha verkniff sich ein Grinsen. Diesen korpulenten, ungeschickten, liebenswürdigen Ricardo hatte sie vor acht Jahren kennen gelernt, zuerst übers Internet, dann persönlich, als er sich zu ihr nach Princeton gesellte, nachdem er kurz zuvor seinen letzten Doktortitel am Massachusetts Institute of Technology erworben hatte.
Mit seinen vierundvierzig Jahren war er einer jener Titel-Hechte, die Samantha immer beneidete. Als verrücktes Genie studierte er irgendetwas, schloss es ab und begann mit der nächsten Disziplin. Seinen Studienkollegen, für die schon ein einziger Doktortitel eine gewaltige Herausforderung war, vermieste er damit das Leben. Samantha bewunderte, wie ein Mensch mit einem solchen Verstand, ein Physiker, Arzt und anerkannter Paläanthropologe, so viele Gelegenheiten fand, bis spät in die Nacht mit Freunden in Kneipen rumzuhängen. Aber sie wusste, wenn sie auf dieser Welt jemandem vertraute, dann war es Ricardo.
»Ich denke, wir haben was gefunden.« Ricardos Augen leuchteten. Schließlich kam er wieder zu Atem. »Eine kleine Öffnung.«
»Die zu einem anderen System führt?«
Gänsehaut überzog ihren Unterarm. Samantha hatte gedacht- gehofft -, sie würden vielleicht eine andere Kammer in der ausgegrabenen Höhle finden, sodass sie tiefer Vordringen könnten, ohne sich durch das Vulkangestein in der unteren Schicht sprengen zu müssen. Mit neuer Energie, die ihren Körper durchströmte, ging sie zur Ausgrabungsstelle zurück.
»Ich glaube, ja.«
»Das würde uns verdammt viel Arbeit ersparen.«
»Und uns vielleicht schneller von hier wegbringen, was?«
Samantha lächelte. Ricardo hatte bereits eine schlimme Darmgeschichte hinter sich, genau wie auf ihrer letzten Fahrt nach Mali. Ganz gleich, wie viel er sich von dem rosa Zeug einpackte oder wie viele Spritzen er bekam, er schien immer das Opfer zu sein.
»Ich sehe, die Ironie meiner Situation ist bei dir angekommen«, fuhr Ricardo fort. »Ein Flüchtling aus dem Land, in dem Montezumas Rache erfunden wurde, ich weiß ...«
»Ist schon jemand durchgegangen?«, unterbrach ihn Samantha. Sie war immer gern die Erste.
»Sieht nicht so aus.«
Und plötzlich hatte sie Schmetterlinge im Bauch. »Dann mal los.«
Hinten in der Höhle war es düster. Die natürliche Feuchtigkeit schien sich durch die schwitzenden Arbeiter noch zu erhöhen, die die Erde und Steine fortschafften. Eine Gruppe von Dogon unterhielt sich aufgeregt über das Loch. Samantha eilte an ihnen vorbei. Sie knipste ihre Helmlampe an, ohne ihren Augen die Möglichkeit zu geben, sich an die dunkleren Bereiche der Höhle zu gewöhnen.
Die Vorstellung kann beginnen, dachte sie.
Seit sie sich für die Laufbahn der Paläanthropologin entschieden hatte, gefiel ihr beim »Spielen im Dreck«, wie ihr Vater
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