Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
»Nach uns die Sintflut«-Haltung predigen. Eine solche Einstellung fand ich schon immer verwerflich, besonders bei alternden Futuristen, die es eigentlich besser wissen müssten. Dieser neue Zustand der Zukunftslosigkeit ist meiner Ansichtnach durchaus positiv zu bewerten. Er ist ein Zeichen der Reife und des Begreifens, dass die Zukunft immer jemandes Vergangenheit und die Gegenwart jemandes Zukunft ist. Nachdem wir nun in der Zukunft angekommen sind, entdecken wir zwangsläufig, dass sie nicht so großartig ist, wie man sie sich vorgestellt hat.
Die wirklich gute Science Fiction war sich dessen schon immer bewusst, jedoch war das eine Art kulturelles Geheimnis. Als ich Ende der Siebziger anfing zu schreiben, lernte ich zum Glück an der Uni, dass die imaginäre Zukunft immer in ihrer Entstehungszeit verhaftet ist – egal, was der Autor darüber denkt. Orwell wusste das, als er 1948 den Roman 1984 schrieb, und ich wusste es bei der Arbeit an Neuromancer, meinem ersten Roman, der 1984 erschien.
Neuromancer spielt in den 2030ern, was im Roman allerdings nie konkret erwähnt wird. Es gibt zwar so etwas wie das Internet, was die Bezeichnung »Cyberspace« trägt, aber keine Handys – jüngere Leser werden das vermutlich für ein wichtiges Handlungselement halten. Nach Neuromancer erschienen noch zwei weitere Romane, die in derselben Zukunftswelt angesiedelt sind. Zukunftsliteratur zu schreiben – also etwas, das zumindest für den Großteil der Leser die Zukunft thematisiert – empfand ich jedoch zunehmend als frustrierend. Ich wusste, dass es in den Büchern eigentlich um ihre Entstehungszeit, nämlich die 80er Jahre ging. Aber niemand sonst schien das zu begreifen.
Deshalb schrieb ich als Nächstes den Roman Virtuelles Licht , der im Jahr 2006 spielt – damals die unmittelbare Zukunft –, und zwei Fortsetzungen, die jeweils ein paar imaginäre Jahre später angesiedelt sind. Insgesamt stellt diese Trilogie meine Sicht auf die 90er dar. Die Reaktionen der Leser blieben jedoch unverändert. Die meisten Leute glaubten immer noch, ich schriebe über die Zukunft. Ein wenig verärgert begann ichin Interviews zu erzählen, ich könnte auch einen Gegenwartsroman schreiben, der genau dieselbe Wirkung hätte wie meine angeblichen Zukunftsentwürfe. Hatte nicht J. G. Ballard gesagt, dass die Erde der wahrhaft fremdartige Planet ist? Waren wir nicht längst in der Zukunft angekommen?
Genau das habe ich dann auch getan. Ich schrieb Mustererkennung (engl. Pattern Recognition ), meinen siebten Roman, der sehr stark von der Erfahrung des 11. Septembers geprägt ist – einem Ereignis, von dem auch so ziemlich jede Dokumentation über das gegenwärtige Jahrhundert ihren Ausgangspunkt nehmen wird. Das wahre 21. Jahrhundert erschien mir weitaus vielschichtiger und interessanter als eine Fantasieversion davon es jemals hätte sein können. Und es ließ sich mit den Werkzeugen der Science Fiction entschlüsseln. Ich wüsste nicht, wie man es sonst entschlüsseln könnte, weil es so stark der Science Fiction ähnelt – bis hin zu der kognitiven Dissonanz, die wir tagtäglich erleben und inzwischen schon für selbstverständlich halten.
Im September erscheint Systemneustart (engl. Zero History ), mein neunter Roman, der den Abschluss dieser Trilogie bildet. Er spielt 2009 in London und Paris, während der Nachwehen des globalen Finanzkollapses.
Ich wünschte, ich könnte Ihnen sagen, worum es in dem Buch geht, aber ich suche noch nach den passenden Worten. Die ersten Rezensionen und Rückmeldungen von Lesern und Buchhändlern werden mir da sicher auf die Sprünge helfen (besonders die Buchhändler sind in dieser Hinsicht immer sehr hilfreich). Dieses Feedback und die verschiedenen Interviews erfüllen für mich den Zweck eines rückwärtsgewandten Orakels. Sie sagen mir, was genau ich in den vergangenen Jahren getan habe.
Während es in Mustererkennung um die unmittelbaren psychischen Folgen des 11. Septembers ging und in Quellcode (engl. Spook Country ) um die Bush-Administration und den Einmarsch im Irak, könnte man sagen, dass Systemneustart von der globalen Finanzkrise als Schlüsselereignis handelt – aber das könnte man vermutlich von jedem Roman aus dem Jahr 2010 behaupten, der versucht, den Zeitgeist einzufangen. In allen drei Romanen geht es auch um die wachsende Erkenntnis, dass es die Zukunft nicht gibt, sondern nur eine Abfolge von Ereignissen – manche davon seltsam und unerwartet. Ganz normaler Alltag eben.
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