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Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Titel: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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moderne Mensch wird diese steinernen Leinwände entdecken und die Bilder bestaunen, die noch immer voller Leben und Bewegung sind, und das gar nicht mal lange, bevor die ersten bewegten Bilder über eine echte Leinwand flimmern.
    Alle unsere »Medien« wurden ursprünglich als »Massenmedien« bezeichnet – Technologien, die das Reproduzieren von passiven Erfahrungen möglich machen. Als Romanautor arbeite ich mit dem ältesten Massenmedium der Welt, dem gedruckten Wort. Das Buch ist seit Jahrhunderten mehr oder weniger unverändert geblieben. Mithilfe von Sprache, die als System von Zeichen auf einer Oberfläche erscheint, kann ich äußerst komplexe Erfahrungen erzeugen, aber nur bei einem Publikum, das Lesen gelernt hat. Das Buch als Plattform besitzt gewisse inhärente Vorzüge. Zum Beispiel kann ich das Innenleben einer Figur leichter und genauer beschreiben als ein Drehbuchautor.Mein Publikum muss jedoch lesen können. Es muss wissen, was eine fiktionale Geschichte ist und wie man mit ihr umgeht. Dazu ist eine komplexe kulturelle Ausbildung nötig, die wiederum auf einer soliden sozioökonomischen Basis ruhen muss. Nicht jeder kommt in den Genuss einer solchen Ausbildung.
    Dagegen erinnere ich mich an meinen ersten Disney-Film – ein Zeichentrickfilm oder eine Naturdoku, genau weiß ich es nicht mehr – und an die steile und rasant vollzogene Lernkurve: Innerhalb einer Stunde lernte ich, Filme anzuschauen. Der Film lehrte es mich quasi selbst. Damals war ich noch Jahre davon entfernt, einen Roman lesen zu können, und es kostete einige Menschen viel Zeit und Mühe, mich in die Lage dazu zu versetzen. Der Film brachte mir dagegen in der Dunkelheit selbst bei, wie man ihn anschaut. Damals war es für mich eine ziemlich brachiale Erfahrung, die mich ebenso mit Schrecken wie mit Entzücken erfüllte. Als ich das Kino verließ, hatte ich gelernt, Filme zu schauen.
    Historisch betrachtet war dieses Erlebnis das Resultat einer ungeheuer komplexen technologischen Evolution der Optik, Mechanik, Fotografie und vielem anderen mehr. Überall auf der Welt sahen Menschen den gleichen Film und machten dabei im Hinblick auf die sensorischen Reize annähernd dieselbe Erfahrung. Und ganz sicher hat der Film im Disney-Archiv bis heute überlebt, und man kann ihn sich immer noch anschauen.
    Dieses Überleben ist für mich der Schlüssel zum Verständnis der digitalen Entwicklung. Als Spezies war es für uns bis vor Kurzem noch alles andere als selbstverständlich, Tote zu sehen oder ihre Stimmen zu hören. Eine Tatsache, die längst noch nicht ausreichend verstanden wurde. Heute können wir beobachten, wie die Menschen vor hundert Jahren gelebt haben. Wir können uns einen Stummfilm anschauen und sehen Menschen, die schon lange tot sind. Oder auch welche, die in den 20er-Jahren bereits siebzig oder achtzig waren und den amerikanischenBürgerkrieg noch miterlebt hatten. Das ist so, als hätte man im Jahr 1956 einen Stummfilm von den Lincoln-Douglas-Debatten oder den Revolutionen des Jahres 1848 sehen können. Ein schlichtweg atemberaubender Gedanke.
    Als unsere Vorfahren sich das erste Mal auf ihrer steinernen Leinwand verewigten, begannen sie damit ein Projekt von gewaltigem Ausmaß, dessen Gestalt uns erst jetzt wirklich klar wird: die Konstruktion einer Gedächtnisprothese, die sich dem Strom der Zeit widersetzt. Sie schufen Erweiterungen des menschlichen Gehirns und Nervensystems, die den Tod des Individuums und vielleicht sogar das Aussterben der ganzen Spezies überleben können. Es war der Anfang dessen, was einmal Zivilisation, Städte und Kino werden sollte. Gewaltige Steinkalender, megalithische Maschinen, die an Saat- und Opfertermine erinnern.
    Mit dem Aufkommen des Digitalen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wird die Natur dieses Projekts immer deutlicher und offensichtlicher. Die Textur der neueren Technologien, ihre Körnung, wird immer feiner, entfernt sich stetig weiter von der Newtonschen Mechanik. Sie ähneln immer mehr der Arbeitsweise des Gehirns selbst.
    Bislang haben wir alle, seien wir nun Schöpfer oder Rezipient, an dieser Veränderung mitgewirkt. Auch wenn die meisten von uns sie noch immer nicht ganz durchschaut haben – dafür stecken wir zu tief drin. Vielleicht wird es uns auch nie wirklich gelingen, diese Entwicklung zu verstehen, denn die technologische Innovation schreitet mit unvermindertem Tempo weiter voran.
    Die Menschheitsgeschichte wird – ohne, dass es uns immer bewusst wäre – in

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