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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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kompliziert und einfach ist. Dies ist das Grundprinzip, das die Welt regiert, dies dürfen wir niemals vergessen. Dinge, die kompliziert erscheinen - und die auch tatsächlich kompliziert sind -, sind äußerst einfach, was die ihnen zugrundeliegenden Motive anbelangt. Es geht letztlich immer nur darum, wonach wir suchen. Die Motivation ist sozusagen die Wurzel des Verlangens. Die Hauptsache ist, die Wurzel zu finden. Setzen Sie den Spaten an, durchstoßen Sie die komplizierte Oberfläche der Wirklichkeit. Und graben Sie in die Tiefe. Graben Sie dann noch ein Stück tiefer, bis Sie schließlich die äußerste Spitze der Wurzel erreichen. Wenn Sie sich nur daran halten« - und hier deutete er mit einer emphatischen Geste auf die Landkarte - »wird sich zuletzt alles aufklären. So und nur so funktioniert die Welt. Die Dummköpfe schaffen es nie, sich von der scheinbaren Komplexität loszureißen. Sie tappen im dunkeln, suchen verzweifelt nach dem Ausgang und sterben, bevor es ihnen gelungen ist, auch nur das geringste von der Funktionsweise der Welt zu begreifen. Sie haben jede Orientierung verloren; sie könnten ebensogut im Wald verirrt sein oder auf dem Grund eines Brunnens sitzen. Und sie haben jede Orientierung deswegen verloren, weil sie die grundlegenden Prinzipien nicht begreifen. Sie haben nichts im Kopf als Müll und Schrott. Sie begreifen nichts. Nicht das geringste. Sie können Vorn nicht von Hinten, Oben nicht von Unten, Norden nicht von Süden unterscheiden. Und das ist auch der Grund, weswegen sie sich niemals aus der Dunkelheit befreien können.«
    Hier hielt Noboru Wataya inne, damit seine Worte sich im Bewußtsein seiner Zuhörerschaft setzen konnten.
    »Aber vergessen wir solche Leute«, fuhr er dann fort. »Wenn jemand unbedingt die Orientierung verlieren möchte, ist das Beste, was Sie und ich tun können, ihn machen zu lassen. Wir haben Wichtigeres zu tun.«
    Je länger ich zuhörte, desto wütender wurde ich, bis ich den Punkt erreichte, wo ich fast an meiner Wut erstickte. Er gab vor, zur breiten Öffentlichkeit zu sprechen, aber in Wirklichkeit sprach er nur zu mir. Und er mußte irgendein unredliches, abartiges Motiv dafür haben, doch das war sonst niemandem klar. Und genau aus diesem Grund war Noboru Wataya auch imstande, das gigantische System des Fernsehnetzes auszunutzen, um mir geheime Botschaften zu übermitteln. Ich ballte die Faust in der Tasche, aber ich hatte keinerlei Möglichkeit, meiner Wut Luft zu machen. Und meine Unfähigkeit, diese Wut irgend jemandem im Raum mitzuteilen, rief in mir ein tiefes Gefühl von Isoliertheit hervor. Das Foyer war voll von Menschen, die sich angestrengt bemühten, jedes Wort mitzubekommen, das Noboru Wataya sprach. Ich durchquerte den Raum und hielt auf einen Korridor zu, der zu den Gästezimmern führte. Dort stand der gesichtslose Mann. Als ich näher kam, sah er mich mit seinem gesichtslosen Gesicht an. Dann stellte er sich mir lautlos in den Weg.
    »Das ist der falsche Zeitpunkt«, sagte er. »Sie haben hier jetzt nichts zu suchen.« Aber der tiefe, aufwühlende Schmerz, den mir Noboru Wataya zufügte, trieb mich jetzt weiter. Ich streckte die Hand aus und schob den gesichtslosen Mann beiseite. Er wankte wie ein Schatten und fiel um.
    »Ich sage das nur zu Ihrem Besten«, rief er mir hinterher, und seine Worte bohrten sich mir, wie Schrapnellkugeln, einzeln in den Rücken. »Wenn Sie auch nur einen Schritt weitergehen, werden Sie nie wieder zurückfinden. Haben Sie verstanden?« Ich ignorierte ihn und ging mit raschen Schritten weiter. Jetzt fürchtete ich mich vor nichts. Ich brauchte Klarheit. Ich hatte jede Orientierung verloren, aber es konnte nicht ewig so bleiben.
    Ich ging einen vertraut wirkenden Korridor entlang. Ich nahm an, der Mann ohne Gesicht würde mir folgen und versuchen, mich aufzuhalten, aber als ich mich umdrehte, sah ich niemanden kommen. Der lange, gewundene Korridor war von identischen Türen gesäumt. An jeder Tür stand eine Nummer, aber an die Nummer des Zimmers, zu dem man mich das letzte Mal geführt hatte, konnte ich mich nicht mehr erinnern. Ich war sicher, daß ich die Nummer damals bewußt wahrgenommen hatte, aber so sehr ich mich auch bemühte, sie fiel mir nicht wieder ein, und jede einzelne Tür zu öffnen kam natürlich nicht in Frage. Ich irrte den Korridor entlang, hinauf und hinunter, bis ich an einem Zimmerkellner vorbeikam, der ein Tablett trug. Auf dem Tablett befanden sich eine unangebrochene Flasche

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