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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Handfläche des Mannes verbrannte. Man konnte beinahe das Fleisch brutzeln hören. Eine Frau stieß einen kleinen spitzen Schrei aus. Alle übrigen starrten nur in sprachlosem Entsetzen. Der Mann ertrug den Schmerz mit qualvoll verzerrtem Gesicht. Was zum Teufel war das hier? Warum mußte er etwas so Idiotisches, etwas so Sinnloses tun? Ich spürte, wie ich einen trockenen Mund bekam. Nach fünf oder sechs Sekunden nahm der Mann die Hand langsam von der Flamme weg und stellte den Teller mit der Kerze auf den Boden. Dann faltete er die Hände und drückte die rechte und die linke Handfläche fest aneinander.
    »Wie Sie heute abend gesehen haben, meine Damen und Herren, kann sich Schmerz buchstäblich ins Fleisch eines Menschen einbrennen«, sagte der Mann. Seine Stimme klang genau wie zuvor: ruhig, besonnen, kühl. Auf seinem Gesicht war keine Spur der ausgestandenen Qual zurückgeblieben. Im Gegenteil, an deren Stelle war ein schwaches Lächeln getreten. »Und Ihnen allen ist es gelungen, den offensichtlichen Schmerz so zu spüren, als wäre es Ihr eigener gewesen. Das ist die Kraft des Einfühlungsvermögens.«
    Langsam nahm der Mann die gefalteten Hände auseinander. Zwischen ihnen kam ein dünnes rotes Halstuch zum Vorschein, das er auseinanderfaltete, damit es jeder sehen konnte. Dann streckte er die offenen Hände dem Publikum entgegen. Sie waren nicht im mindesten verbrannt. Es folgte eine kurze Stille, und dann machten die Leute ihrer Erleichterung durch tosenden Applaus Luft. Die Beleuchtung wurde hochgedreht, und an die Stelle der atemlosen Spannung, die den Raum erfüllt hatte, trat lebhaftes Geplauder. Als sei das Ganze überhaupt nicht passiert, legte der Mann seine Gitarre in den Kasten, stieg von der Bühne herunter und verschwand.
    Als ich meine Rechnung bezahlte, fragte ich das Mädchen an der Kasse, ob der Mann oft da sänge und ob er das Kunststück regelmäßig vorführe. »Ich bin nicht sicher«, sagte sie. »Soweit ich weiß, war das eben sein erster Auftritt hier. Ich hatte bis heute noch nie von ihm gehört. Und niemand hat mir gesagt, daß er Zaubertricks vorführt. Aber war das nicht unglaublich? Ich wüßte wirklich gern, wie er das macht. Ich wette, im Fernsehen hätte er einen Bombenerfolg.«
    »Das stimmt«, sagte ich. »Es sah ganz so aus, als würde er sich wirklich verbrennen.«
    Ich eine zurück zum Hotel, und kaum hatte ich mich ins Bett gelegt, sprang mich der Schlaf an, als habe er die ganze Zeit nur darauf gewartet. Während ich ins Nichts versank, dachte ich an Kumiko, aber sie schien sehr weit weg zu sein, und danach konnte ich überhaupt nichts mehr denken. In meinem Bewußtsein blitzte das Gesicht des Mannes auf, der sich die Hand verbrannte. Er schien sich wirklich zu verbrennen, fand ich. Und dann schlief ich ein.

8
    D IE WURZEL DES VERLANGENS
    IN ZIMMER 208
    DURCH DIE WAND GEHEN
     
    Vor Tagesanbruch hatte ich auf dem Grund des Brunnens einen Traum. Aber es war kein Traum. Es war irgend etwas anderes, was zufällig die Form eines Traums angenommen hatte.
    Ich ging allein vor mich hin. Auf dem Bildschirm eines großen Fernsehgeräts, das sich in der Mitte eines saalartigen Foyers befand, war das Gesicht Noboru Watayas zu sehen. Seine Rede hatte gerade erst angefangen. Noboru Wataya trug einen Tweedanzug, ein gestreiftes Hemd und eine marineblaue Krawatte. Seine Hände lagen gefaltet auf dem Tisch vor ihm, und er sprach in die Kamera. Hinter ihm hing eine große Weltkarte an der Wand. Im Foyer mußten sich über hundert Menschen befinden, und jeder einzelne von ihnen unterbrach, was er gerade tat, und hörte ihm mit ernstem Gesicht zu. Noboru Wataya war im Begriff, etwas anzukündigen, was über das Schicksal des Volkes entscheiden würde. Auch ich blieb stehen und sah auf den Bildschirm. Mit geübter - aber vollkommen aufrichtiger - Stimme sprach Noboru Wataya zu Millionen für ihn unsichtbarer Menschen. Dieses unerträgliche Etwas, das ich immer spürte, wenn ich ihm gegenübersaß, war jetzt an irgendeinem geheimen, der Wahrnehmung entrückten Ort verborgen. Er sprach auf seine einzigartig überzeugende Weise: die sorgfältig kalkulierten Pausen, die sonore Stimme, die Differenziertheit des Mienenspiels - alles erzeugte einen wirkungsvollen Eindruck von Realität. Noboru Wataya schien mit jedem Tag als Redner vollkommener zu werden. Das konnte ich ihm nicht absprechen, so leid es mir auch tat.
    »Und damit sehen Sie, meine Freunde«, sagte er gerade, »daß alles zugleich

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