Mister Aufziehvogel
mikroskopischen Körnchen in meinen Kopf und peitschten meine Nerven auf. »Sagen Sie mir, Toru Okada«, sagte die Frau mit plötzlich veränderter Stimme; ihr Ton konnte von einem Augenblick auf den anderen umschlagen; jetzt war er mit der dichten, schweren Luft des Zimmers eins geworden. »Glauben, daß Sie irgendwann einmal Lust haben könnten, mich wieder in den Armen zu halten? Daß Sie Lust haben könnten, in mich einzudringen? Daß Sie Lust haben könnten, mich überall zu küssen? Sie können mit mir alles tun, was Sie wollen, das wissen Sie doch. Und ich werde alles tun, was Sie wollen … alles … Dinge, die Ihre Frau … Kumiko Okada … nie für Sie tun würde. Ich werde es Ihnen so gut machen, daß Sie es nie wieder vergessen. Wenn Sie -«
Ohne jede Vorwarnung klopfte es an der Tür. Es war das harte, präzise Geräusch eines Nagels, der mit einem einzigen Hammerschlag ins Holz getrieben wird - ein ominöses Geräusch in der Dunkelheit.
Aus dem Dunkel griff die Hand der Frau nach mir und schloß sich um meinen Arm. »Hier entlang«, flüsterte sie. »Schnell.« Ihre Stimme hatte jetzt nichts Träumerisches mehr. Es klopfte wieder: zwei Schläge von exakt gleicher Stärke. Plötzlich fiel mir ein, daß ich die Tür nicht verriegelt hatte.
»Beeilen Sie sich«, sagte sie. »Sie müssen hier raus. Das hier ist der einzige Weg.« Ich ließ mich von der Frau durch die Dunkelheit ziehen. Ich konnte hören, wie der Türknauf sich leise drehte. Das Geräusch jagte mir Gänsehaut über den Rücken. Im selben Augenblick, als das Licht aus dem Korridor die Dunkelheit durchdrang, schlüpften wir in die Wand. Sie hatte die Konsistenz einer gewaltigen Masse kalter Gelatine; ich preßte die Lippen fest aufeinander, um nichts davon in den Mund zu bekommen. Mir schoß der Gedanke durch den Kopf: Ich gehe durch die Wand! Um von einem Ort zu einem anderen zu gelangen, ging ich durch die Wand. Und trotzdem kam es mir, noch während es geschah, wie die natürlichste Sache der Welt vor.
Ich spürte, wie sich die Zunge der Frau in meinen Mund schob. Warm und weich, erkundete sie jede Ritze und schlang sich dann um meine Zunge. Der schwere Geruch von Blütenblättern rieb sich an den Wänden meiner Lungen. Tief unten in meinen Lenden verspürte ich das dumpfe Bedürfnis zu kommen. Ich kniff die Augen zu und kämpfte dagegen an. Einen Augenblick später spürte ich eine intensive Hitze an meiner rechten Wange. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Ich spürte keinen Schmerz, nur, daß es an dieser Stelle heiß war. Ich konnte nicht erkennen, ob die Hitze von außen kam oder aus meinem Inneren hervorbrodelte. Bald war alles fort: die Zunge der Frau, der Blumengeruch, das Bedürfnis zu kommen, die Hitze an meiner Wange. Und ich ging durch die Wand. Als ich die Augen öffnete, befand ich mich auf der anderen Seite - auf dem Grund eines tiefen Brunnens.
9
B RUNNEN UND STERNE
WIE DIE LEITER VERSCHWAND
Kurz nach fünf Uhr morgens war der Himmel schon hell, aber dennoch sah ich oben eine Menge Sterne. Es war genau so, wie Leutnant Mamiya mir erzählt hatte: Vom Grund eines Brunnens aus kann man am hellichten Tag Sterne sehen. In die vollkommene Halbmondscheibe Himmel waren säuberlich, wie Proben von seltenen Mineralien, schwach glimmende Sterne eingebettet. Erst einmal hatte ich - als Fünft- oder Sechstkläßler, beim Zelten mit ein paar Freunden auf der Kuppe eines Berges - so viele Sterne gesehen, daß der ganze Himmel davon ausgefüllt gewesen war. Es hatte fast so ausgesehen, als könnte der Himmel jeden Augenblick unter der Last all dieser Dinger einbrechen und herunterkrachen. Noch nie hatte ich solch einen unglaublichen Himmel voller Sterne gesehen. Als einziger noch wach und außerstande einzuschlafen, war ich aus dem Zelt gekrochen, hatte mich auf die Erde gelegt und den Himmel betrachtet. Ab und an zog eine Sternschnuppe eine helle Bogenspur über das Firmament. Doch je länger ich schaute, desto unruhiger machte es mich. Es gab einfach zuviel Sterne, und der Himmel war zu groß und zu tief: ein riesiges, überwältigendes fremdartiges Gebilde, das mich ringsum umgab, mich umhüllte und fast schwindelig machte. Bis zu diesem Moment hatte ich immer geglaubt, die Erde, auf der ich stand, sei ein fester Körper, der für immer bestehen würde. Oder besser gesagt, ich hatte mir nie irgendwelche Gedanken darüber gemacht. Ich hatte es einfach stillschweigend vorausgesetzt. Tatsächlich aber war die Erde ein
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