Mister Aufziehvogel
Cutty Sark, ein Eiskübel und zwei Gläser. Ich ließ den Kellner vorbeigehen und folgte ihm dann. Ab und zu warf das blankpolierte Tablett hell aufblitzend das Licht einer Deckenlampe zurück. Der Kellner sah sich kein einziges Mal um. Das Kinn entschlossen eingezogen, ging er zielstrebig, mit gleichmäßig rhythmischen Schritten seines Weges. Mitunter pfiff er ein paar Takte Musik. Es war die Ouvertüre zur Diebischen Elster, die Stelle, an der die Trommeln einsetzen. Er war gut.
Es war ein langer Korridor, aber solange ich dem Kellner auch folgte, niemand begegnete mir. Schließlich blieb der Kellner vor einer Tür stehen und klopfte dreimal leise an. Nach einigen Sekunden öffnete jemand die Tür, und der Kellner trug das Tablett hinein. Ich preßte mich gegen die Wand, hinter einer großen, chinesisch anmutenden Vase verborgen, und wartete darauf, daß der Kellner wieder herauskam. Die Zimmernummer war 208. Natürlich! Wie hatte sie mir nur bis jetzt nicht wieder einfallen können?
Der Kellner ließ sich viel Zeit. Ich warf einen Blick auf meine Uhr, aber irgendwann waren die Zeiger stehengeblieben. Ich musterte die Blumen in der Vase und roch jeden einzelnen Duft. Die Blumen schienen erst wenige Augenblicke zuvor aus einem Garten hierhergebracht worden zu sein, so vollkommen frisch waren sie, so makellos in ihren Farben und Düften. Sie hatten wahrscheinlich noch nicht gemerkt, daß man sie von ihren Wurzeln abgeschnitten hatte. Ein winziges geflügeltes Insekt hatte sich in das Herz einer roten Rose mit dicken, fleischigen Blütenblättern hineingearbeitet.
Es verstrichen fünf Minuten oder mehr, ehe der Kellner, jetzt mit leeren Händen, wieder aus dem Zimmer herauskam. Mit eingezogenem Kinn wie zuvor schlug er den Weg ein, den er gekommen war. Sobald er hinter einer Kurve verschwunden war, ging ich zur Tür. Ich hielt den Atem an und lauschte. Aber nicht das geringste Geräusch war zu hören, nichts, was dafür gesprochen hätte, daß jemand im Zimmer war. Ich faßte mir ein Herz und klopfte. Dreimal. Leise. Wie der Kellner es getan hatte. Doch niemand antwortete. Ich ließ ein paar Sekunden verstreichen und klopfte erneut dreimal, diesmal ein wenig kräftiger als vorher. Wieder keine Antwort.
Als nächstes versuchte ich es mit dem Türknauf. Ich drehte ihn herum, und die Tür ging lautlos nach innen auf. Anfangs sah es im Zimmer stockfinster aus, aber ein wenig Licht drang doch herein, an den schweren Vorhängen vorbei. Mit Mühe konnte ich gerade eben das Fenster, einen Tisch und ein Sofa ausmachen. Dies war das Zimmer, in dem ich mich mit Kreta Kano gepaart hatte. Es war eine Suite: hier das Wohnzimmer und hinten das Schlafzimmer. Auf dem Tisch waren die schwachen Umrisse der Cutty-Sark-Flasche, der Gläser und des Eiskübels zu erkennen. Als ich die Tür öffnete, hatte das Edelstahlgefäß das Licht aus dem Korridor aufgefangen und einen messerscharfen Blitz zurückgeworfen. Ich trat in die Dunkelheit ein und drückte die Tür leise hinter mir zu. Die Luft im Zimmer war warm und mit dem schweren Duft von Blumen geschwängert. Ich hielt den Atem an und lauschte, die linke Hand noch am Knauf, damit ich die Tür bei Bedarf jederzeit öffnen konnte. Irgendwo mußte hier jemand sein. Jemand hatte beim Zimmerservice den Whisky, das Eis und die Gläser bestellt und hatte den Kellner hereingelassen.
»Lassen Sie das Licht aus«, sagte eine Frauenstimme. Sie kam aus dem Schlafzimmer. Ich erkannte sie sofort. Es war die Stimme der geheimnisvollen Frau, die mich mit diesen seltsamen Anrufen verfolgt hatte. Ich ließ den Knauf los und ging langsam auf die Stimme zu. Die Dunkelheit des Hinterzimmers tendierte eher zu undurchdringlicher Finsternis als diejenige im vorderen Zimmer. Ich stand in der Tür zwischen den beiden Räumen und bemühte mich, etwas zu erkennen. Ich hörte das Rascheln von Bettlaken. Ein schwarzer Schatten bewegte sich in der Dunkelheit. »Lassen Sie es dunkel«, sagte die Frauenstimme. »Keine Sorge«, sagte ich. »Ich schalte das Licht schon nicht ein.« Ich hielt mich am Türrahmen fest.
»Sind Sie allein hergekommen?« fragte die Frau. Sie klang leicht ermüdet. »Natürlich«, sagte ich. »Ich dachte mir, daß ich Sie hier finden würde. Sie oder Kreta Kano. Ich muß wissen, wo Kumiko ist. Ich meine, alles hat mit diesem ersten Anruf von Ihnen angefangen. Sie haben die Büchse der Pandora geöffnet. Danach passierte eine seltsame Sache nach der anderen, bis schließlich Kumiko
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