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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Art von Musik war schwer zu definieren - etwas, was man früher vielleicht »Folk« genannt hätte, aber eine japanische Version von Folk. Einfache Akkorde, einfache Melodien, einfältige Texte. Nicht gerade die Sorte Musik, für die ich mich eigens auf die Beine machen würde.
    Normalerweise hätte ich auf solches Geplinker nicht weiter geachtet. Ich hätte meinen Whisky getrunken, meine Rechnung bezahlt und wäre gegangen. Aber an jenem Abend war ich völlig durchgefroren und hatte nicht die mindeste Absicht, wieder ins Freie zu gehen, ehe ich mich gründlich aufgewärmt hätte. Ich trank einen Kurzen und bestellte einen zweiten. Ich machte keine Anstalten, Mantel oder Schal auszuziehen. Als der Barkeeper fragte, ob ich einen Imbiß wolle, ließ ich mir etwas Käse geben und aß eine Scheibe. Ich versuchte nachzudenken, aber ich brachte irgendwie meinen Kopf nicht dazu, richtig zu funktionieren. Ich wußte nicht einmal, worüber ich eigentlich nachdenken wollte. Ich war ein unbewohnter Raum. Innen erzeugte die Musik nur einen trockenen, hohlen Widerhall. Als der Mann seine Darbietung beendet hatte, wurde hier und da geklatscht, weder übermäßig begeistert noch ausschließlich der Form halber. Im Lokal saßen nicht mehr als zehn bis fünfzehn Gäste. Der Typ stand auf und verneigte sich. Er schien irgendwelche witzigen Bemerkungen von sich zu geben, denn ein paar der Gäste lachten. Ich rief den Barkeeper heran und bestellte meinen dritten Whisky. Dann endlich zog ich meinen Mantel und meinen Schal aus. »Damit ist meine heutige Vorstellung beendet«, erklärte der Sänger. Er schien innezuhalten und den Blick über den Raum schweifen zu lassen. »Aber einigen von Ihnen dürften meine Lieder heute abend nicht gefallen haben. Für Sie möchte ich eine kleine Zugabe geben. Ich mache das nicht häufig, also sollten Sie sich glücklich schätzen.«
    Er legte sein Instrument auf den Boden und holte aus dem Gitarrenkasten eine einzelne dicke weiße Kerze. Er zündete sie mit einem Streichholz an, ließ etwas Wachs auf einen Teller tropfen und stellte die Kerze darauf. Dann hielt er, wie ein griechischer Philosoph anzusehen, den Teller in die Höhe. »Könnte man die Beleuchtung bitte etwas herunterdrehen?« Einer der Angestellten dimmte die Beleuchtung ein wenig. »Ein bißchen dunkler, wenn’s Ihnen nichts ausmacht.« letzt wurde es im Lokal viel dunkler, und die Kerzenflamme war deutlich zu sehen. Die Hände um mein Whiskyglas gelegt, um es anzuwärmen, hielt ich die Augen unverwandt auf den Mann und seine Kerze gerichtet. »Wie Ihnen selbstverständlich allen bekannt ist«, fuhr der Mann mit leiser, aber durchdringender Stimme fort, »erleiden wir im Laufe unseres Lebens vielfältige Schmerzen. Körperliche Schmerzen und seelische Schmerzen. Ich weiß, daß ich in meinem Leben Schmerz in vielen verschiedenen Erscheinungsformen erlitten habe, und ich bin sicher, das gleiche gilt für Sie. Ebenso sicher bin ich aber, daß es Ihnen in den meisten Fällen sehr schwer gefallen sein dürfte, einem anderen Menschen die Realität dieses Schmerzes zu vermitteln: ihn mit Worten auszudrücken. Man sagt, verstehen könne jeder nur den Schmerz, den er selbst empfindet. Aber ist das wirklich wahr? Ich zumindest glaube nicht, daß das zutrifft. Wenn wir jemanden sehen, mit eigenen Augen sehen, der wirklich leidet, erleben wir seinen Schmerz manchmal durchaus als den unsrigen. Das ist die Kraft des Einfühlungsvermögens. Drücke ich mich klar aus?« Er unterbrach sich und sah sich noch einmal im Raum um. »Der Grund, warum Leute für andere Leute Lieder singen, ist deren Wunsch, das Einfühlungsvermögen der anderen wachzurufen, aus der engen Hülse des eigenen Ich auszubrechen und ihren Schmerz und ihre Freude mit anderen zu teilen. Das ist natürlich nicht leicht zu bewerkstelligen. Und daher möchte ich Ihnen, als eine Art Experiment, zu einem einfacheren, körperlicheren Einfühlungserlebnis verhelfen.«
    Im Lokal war es jetzt totenstill, alle Augen hingen wie gebannt an der Bühne. Inmitten dieser Stille starrte der Mann ins Leere, wie um eine Kunstpause einzulegen oder sich in einen Zustand geistiger Konzentration zu versetzen. Dann hielt er ohne ein Wort seine linke Hand über die brennende Kerze. Ganz langsam rührte er die offene Handfläche immer näher und näher an die Flamme heran. Einer der Zuschauer gab ein Geräusch wie einen Seufzer oder ein Stöhnen von sich.
    Man konnte sehen, wie die Spitze der Flamme die

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