Mister Aufziehvogel
trank ich auch einen Schluck: Das Wasser war kalt und köstlich. »Sag mal, ist das Brunnenwasser?« fragte ich.
»Klar! Es wird hochgepumpt. Fühlt sich toll an, nicht? So schön kalt. Man kann’s auch trinken. Wir haben einen vom Gesundheitsamt kommen lassen, und der hat eine Analyse gemacht und gesagt, das Wasser sei in völlig Ordnung, man fände in Tokio fast nirgendwo sonst so sauberes Wasser. Er hat echt gestaunt. Aber trotzdem trauen wir uns nicht so richtig, es zu trinken. Bei all den Häusern, die hier so dicht zusammen stehen, kann man nie wissen, was da mal reinläuft.«
»Aber findest du das nicht seltsam? Der Brunnen der Miyawakis ist knochentrocken, und eurer hat so viel gutes, frisches Wasser. Dabei liegen sie nur ein paar Meter auseinander. Wie kommt’s zu diesem Unterschied?«
»Ja, stimmt«, sagte May Kasahara und legte den Kopf schief. »Vielleicht hat irgend etwas bewirkt, daß der unterirdische Fluß seinen Lauf ein klein wenig geändert hat, so daß ihr Brunnen ausgetrocknet ist und unserer nicht. Woran genau das liegt, weiß ich natürlich nicht.«
»Ist in eurem Haus schon mal etwas Schlimmes passiert?« fragte ich. May Kasahara verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Das einzig Schlimme, was in den letzten zehn Jahren in diesem Haus passiert ist, ist, daß es hier so verdammt stinklangweilig ist!«
May Kasahara trocknete sich ab und fragte, ob ich ein Bier wollte. Ich sagte ja. Sie ging ins Haus und kam mit zwei kalten Dosen Heineken zurück. Sie trank die eine, ich die andere.
»Nun, Mister Aufziehvogel, was haben Sie für Pläne? Wie soll’s jetzt weitergehen?«
»Ich hab mich noch nicht recht entschieden«, sagte ich. »Aber wahrscheinlich gehe ich hier weg. Könnte sogar sein, daß ich ins Ausland gehe.«
»Ins Ausland? Wohin denn da?«
»Nach Kreta.«
»Nach Kreta? Hat das etwa was mit dieser Kreta Dingsbums zu tun?«
»Irgendwas, ja.«
May Kasahara dachte einen Augenblick lang darüber nach. »Und war’s diese Kreta Dingsbums, die Sie aus dem Brunnen gerettet hat?«
»Kreta Kano«, sagte ich. »Ja, sie.«
»Sie haben jede Menge Freunde, was, Mister Aufziehvogel?«
»Eigentlich gar nicht. Wenn überhaupt, bin ich eher dafür berühmt, daß ich so wenig Freunde habe.«
»Trotzdem, ich würd gern wissen, wie Kreta Kano rausgefunden hat, daß Sie unten im Brunnen waren. Sie hatten doch niemand was davon gesagt, daß Sie da reinwollten, oder? Also wie hat sie rausgekriegt, wo Sie waren?«
»Weiß ich nicht«, sagte ich.
»Aber jedenfalls fahren Sie nach Kreta, ja?«
»Ich hab mich noch nicht entschieden. Es ist nur eine Möglichkeit. Zuerst muß ich die Sache mit Kumiko klären.«
May Kasahara steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie an. Dann berührte sie mit der Spitze ihres kleinen Fingers den Schnitt neben ihrem Auge. »Wissen Sie, Mister Aufziehvogel, so ziemlich die ganze Zeit, wo Sie im Brunnen waren, hab ich mich hier draußen gesonnt. Ich hab den Garten des verlassenen Hauses beobachtet und mich rösten lassen und an Sie gedacht, wie Sie auf dem Grund des Brunnens am Verhungern waren und sich dem Tod immer mehr näherten, Schrittchen für Schrittchen. Ich war die einzige, die wußte, daß Sie da unten saßen und nicht wieder rauskonnten. Und wie ich darüber nachdachte, hab ich unheimlich klar gespürt, was Sie empfanden: den Schmerz und den Streß und die Angst. Verstehen Sie? Auf die Weise hab ich’s geschafft, gaaanz nah an Sie ranzukommen! Ich hätte Sie wirklich nicht sterben lassen. Das ist die Wahrheit. Ehrlich. Aber ich wollte noch weiter gehen, bis an den äußersten Rand. Bis zu dem Punkt, wo Sie anfangen würden, auseinanderzufallen und vor Angst auszurasten, und es keinen Augenblick länger aushalten würden. Ich war wirklich sicher, das wäre das Beste - für mich und für Sie.«
»Ich werd dir mal was sagen«, sagte ich. »Ich glaube, wenn du wirklich bis an den äußersten Rand gegangen wärst, hättest du vielleicht auch den letzten Schritt tun wollen. Kann sein, daß es viel einfacher gewesen wäre, als du meinst. Wenn du so weit gegangen wärst, wäre nur noch ein letzter Schubs nötig gewesen. Und anschließend hättest du dir dann gesagt, es sei das Beste gewesen - für mich und für dich.« Ich nahm einen Schluck Bier.
May Kasahara kaute auf ihrer Lippe herum und dachte eine Zeitlang darüber nach. »Sie könnten recht haben«, sagte sie. »Da bin ich mir selbst nicht sicher.« Ich trank meinen Bier aus und
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