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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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an den Tod. Aber nicht andauernd. Nur ab und an. Wie die meisten Leute.«
    »Ich meine folgendes, Mister Aufziehvogel«, sagte May Kasahara. »Jeder kommt mit etwas anderem als Kern seiner Existenz auf die Welt. Und dieses Etwas, dieses Ding, was immer es ist, ist dann so was wie die Wärmequelle, die jeden von innen her in Betrieb hält. Ich hab natürlich auch eins. Wie jeder andere Mensch auch. Aber manchmal gerät’s mir außer Kontrolle. Es bläht sich auf oder schrumpft in mir zusammen, und es rüttelt mich durch. Was ich wirklich möchte, war, einen Weg finden, dieses Gefühl einem anderen mitzuteilen. Aber ich schaff’s anscheinend nicht. Der andere kapiert’s einfach nicht. Natürlich könnte das Problem auch darin liegen, daß ich es nicht besonders gut erkläre, aber ich glaube, das liegt daran, daß der andere nicht besonders gut zuhört. Er tut so, als würde er zuhören, aber er tut’s nicht wirklich. Also reg ich mich manchmal auf, und dann tu ich verrückte Dinge.«
    »Verrückte Dinge?«
    »Wie zum Beispiel, na, Sie im Brunnen einzusperren oder, wenn ich hinten auf einem Motorrad sitze, dem Typ am Lenker die Augen zuzuhalten.« Als sie das sagte, berührte sie die Narbe neben ihrem Auge.
    »Und so ist der Motorradunfall passiert?« fragte ich.
    May Kasahara warf mir einen fragenden Blick zu, als habe sie nicht mitbekommen, was ich gesagt hatte. Aber eigentlich mußte jedes meiner Worte sie erreicht haben. Den Ausdruck in ihren Augen konnte ich durch die dunklen Gläser nicht erkennen, aber über ihrem Gesicht schien sich Betäubung auszubreiten, wie Öl auf einer glatten Wasserfläche. »Was ist aus dem Typ geworden?« fragte ich.
    Die Zigarette zwischen den Lippen, fuhr May Kasahara fort, mich anzusehen. Oder besser gesagt, sie fuhr fort, mein Mal anzusehen. »Muß ich diese Frage beantworten, Mister Aufziehvogel?«
    »Nicht, wenn du nicht willst. Du hast mit dem Thema angefangen. Wenn du nicht drüber reden willst, dann laß es.«
    May Kasahara wurde ganz still. Sie konnte sich offenbar nicht entscheiden. Dann füllte sie ihre Lunge mit Zigarettenrauch und ließ ihn langsam wieder heraus. Mit müden Bewegungen streifte sie ihre dunkle Brille ab und wandte das Gesicht, die Augen fest geschlossen, zur Sonne. Während ich sie ansah, bekam ich das Gefühl, der Fluß der Zeit ströme immer langsamer - als ob die Feder der Zeit allmählich am Ablaufen sei.
    »Er ist gestorben«, sagte sie endlich, mit ausdrucksloser Stimme, als habe sie sich mit irgend etwas abgefunden.
    »Gestorben?«
    May Kasahara klopfte die Asche von ihrer Zigarette ab. Dann hob sie ihr Handtuch auf und wischte sich den Schweiß vom Gesicht, immer wieder, immer wieder. Schließlich sagte sie, als erinnerte sie sich plötzlich an eine Aufgabe, die ihr entfallen war, abgehackt und sachlich: »Wir fuhren ziemlich schnell. Ist nicht weit von Enoshima passiert.«
    Ich sah sie wortlos an. Sie hielt in jeder Hand ein Ende des Badetuchs und preßte es sich von beiden Seiten gegen die Wangen. Weißer Rauch stieg von der Zigarette auf, die sie zwischen den Fingern hielt. In der windstillen Luft stieg der Rauch steil in die Höhe, wie ein Miniaturrauchsignal. Sie konnte sich offenbar nicht entscheiden, ob sie lachen oder weinen sollte; zumindest sah sie für mein Empfinden so aus. Sie schwankte auf der dünnen Linie, die die eine Möglichkeit von der anderen trennte, aber am Ende fiel sie nach keiner Seite. May Kasahara ordnete ihre Mimik, legte das Handtuch ins Gras und zog an ihrer Zigarette. Es war schon fast fünf, aber nichts deutete darauf hin, daß die Hitze nachließ. »Ich habe ihn umgebracht«, sagte sie. »Natürlich nicht mit Absicht. Ich wollte nur an die Grenze gehen. Wir haben andauernd so Sachen gemacht. Es war wie ein Sport. Ich hab ihm auf der Maschine beim Fahren die Augen zugehalten oder ihn gekitzelt. Aber es ist nie was passiert. Bis zu dem Tag …« May Kasahara hob das Gesicht und sah mich an.
    »Jedenfalls, Mister Aufziehvogel, nein, ich hab nicht das Gefühl, beschmutzt worden zu sein. Ich wollte nur nach Möglichkeit an dieses glibbrige Ding rankommen. Ich wollte es austricksen, es dazu bringen, daß es aus mir herauskommt, und es dann zu Brei schlagen. Man muß wirklich an die Grenze gehen, wenn man es rauslocken will. Das ist die einzige Möglichkeit. Man muß ihm einen wirklich guten Köder hinhalten.« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, daß ich beschmutzt worden bin. Aber gerettet

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