Mister Aufziehvogel
frische Leiche, die gerade wieder zum Leben erwacht war und sich aus dem Grab herausgebuddelt hatte. Ich zog ein T-Shirt und kurze Hosen an, dann setzte ich meine Sonnenbrille und eine Mütze auf. Draußen auf der Gasse merkte ich, daß die Hitze des Tages noch längst nicht vorüber war. Alles oberirdische Leben - alles Sichtbare - lechzte nach einem plötzlichen Regenguß, aber am Himmel war nicht der Schatten einer Wolke. Eine Decke von heißer, stehender Luft lastete auf der Gasse. Wie immer war sie verlassen. Gut so. So entsetzlich, wie ich aussah, und an einem so heißen Tag hatte ich nicht die geringste Lust, jemandem über den Weg zu laufen. Im Garten des unbewohnten Hauses glotzte der steinerne Vogel, wie stets erhobenen Schnabels wütend in den Himmel. Er sah weit schäbiger aus als beim letzten Mal, verwitterter. Und sein Blick wirkte schärfer. Er schien fest auf etwas äußerst Deprimierendes am Himmel zu starren. Wäre es ihm nur möglich gewesen, hätte der Vogel den Blick gern abgewandt, aber mit seinen versteinerten Augen hatte er keine andere Wahl als weiter hinzugucken. Das hohe Unkraut um die Skulptur herum verharrte reglos wie der Chor in einer griechischen Tragödie, der atemlos darauf wartet, daß ein Orakel ergeht. Auf dem Dach stieß die Fernsehantenne ihre Silberfühler apathisch in die erdrückende Hitze. Unter dem harten Sommerlicht lag alles ausgetrocknet und entkräftet da. Nachdem ich einen längeren prüfenden Blick in den Garten des leerstehenden Hauses geworfen hatte, betrat ich May Kasaharas Garten. Die Eiche warf einen kühl anmutenden Schatten auf den Rasen, aber May Kasahara zog offenbar die pralle Sonne vor. Sie lag rücklings auf einem Liegestuhl, in einem unglaublich winzigen, schokoladenfarbenen Bikini: drei kleinen Flicken, die von ein paar dünnen Schnüren zusammengehalten wurden. Ich konnte nicht umhin, mich zu fragen, ob jemand in so einem Ding tatsächlich schwimmen könne. Sie trug dieselbe Sonnenbrille, die sie bei unserer ersten Begegnung aufgehabt hatte, und ihr Gesicht war mit dicken Schweißtropfen gesprenkelt. Unter ihrem Liegestuhl hatte sie ein weißes Badetuch, eine Tube Sonnencreme und ein paar Zeitschriften. Zwei Sprite-Dosen, wovon die eine anscheinend als Aschenbecher diente, standen in Reichweite. Auf dem Rasen lag ein Gartenschlauch mit Sprinkler; niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn nach der letzten Benutzung wieder aufzurollen. Als ich näher kam, setzte sich May Kasahara auf und drehte das Radio leiser. Sie war viel brauner als beim letzten Mal. Dies war nicht die gewöhnliche Bräune, wie man sie sich bei einem Wochenende am Meer holt. Ihr gesamter Körper, von Kopf bis Fuß, war appetitlich geröstet. Anscheinend tat sie den ganzen Tag nichts anderes, als sich zu sonnen - und hatte es zweifellos auch während der ganzen Zeit getan, als ich im Brunnen gesessen hatte. Ich ließ den Blick kurz durch den Garten schweifen. Alles sah noch ziemlich genauso aus wie vorher: Der Rasen war noch immer gepflegt, der Teich noch immer leer und so sichtlich ausgedörrt daß man vom bloßen Hinschauen Durst bekam.
Ich setzte mich neben sie auf den zweiten Liegestuhl und holte ein Zitronenbonbon aus der Tasche. Das Papierchen war aufgrund der Hitze an der Zuckerglasur festgeklebt.
May Kasahara sah mich eine Zeitlang an, ohne etwas zu sagen. »Was ist denn mit Ihnen passiert, Mister Aufziehvogel? Was haben Sie da für ein Mal im Gesicht? Das ist doch ein Mal, nicht?«
»Ich denk schon. Aber ich weiß nicht, wie es passiert ist. Ich hab hingesehen - und da war es.«
May Kasahara stützte sich auf einen Ellbogen und starrte mir ins Gesicht. Sie wischte sich die Schweißtropfen ab, die sich neben ihrer Nase gebildet hatten, und schob sich die Sonnenbrille zurecht. Ihre Augen waren hinter den dunklen Gläsern kaum zu sehen.
»Sie haben überhaupt keine Ahnung? Keinen Schimmer, wo oder wie das passiert sein könnte?«
»Nein.«
»Gar keinen?«
»Ich bin aus dem Brunnen gestiegen, und kurz danach habe ich in den Spiegel gesehen, und da war es. Ehrlich.«
»Tut’s weh?«
»Es tut nicht weh, und es juckt auch nicht. Es fühlt sich allerdings ein bißchen warm an.«
»Sind Sie bei einem Arzt gewesen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Wäre wahrscheinlich reine Zeitvergeudung.«
»Wahrscheinlich«, sagte May Kasahara. »Ich kann Ärzte auch nicht ausstehen.«
Ich nahm Mütze und Sonnenbrille ab und wischte mir mit meinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
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