Mister Aufziehvogel
Mein graues T-Shirt war unter den Armen schon schwarz vor Schweiß. »Starker Bikini«, sagte ich.
»Danke.«
»Sieht aus wie aus Resten zusammengeflickt: die optimale Ausnutzung unserer begrenzten Rohstoffreserven.«
»Wenn niemand da ist, nehm ich das Oberteil ab.«
»Soso«, sagte ich.
»Nicht, daß drunter viel zu sehen wäre«, sagte sie, als wolle sie sich entschuldigen. Es stimmte schon, die Brüste in ihrem Bikinioberteil waren noch klein und wenig entwickelt. »Bist du in dem Ding je geschwommen?« fragte ich.
»Noch nie. Ich kann gar nicht schwimmen. Und Sie, Mister Aufziehvogel?«
»Doch, ich kann schwimmen.«
»Wie weit?«
»Weit.«
»Zehn Kilometer?«
»Wahrscheinlich … Niemand zu Hause?«
»Sind gestern alle weggefahren, in unser Sommerhaus nach Izu. Sie wollen das Wochenende über baden. ›Alle‹ heißt meine Eltern und mein kleiner Bruder.«
»Du nicht?«
Sie zuckte kaum merklich die Achseln. Dann holte sie ihre Hope ohne und Streichhölzer aus den Falten des Badetuchs und steckte sich eine Zigarette an.
»Sie sehen grauenvoll aus, Mister Aufziehvogel.«
»Natürlich seh ich grauenvoll aus - nach mehreren Tagen auf dem Grund eines Brunnens, mit fast nichts zu essen und zu trinken, wer sähe da nicht grauenvoll aus?«
May Kasahara nahm die Sonnenbrille ab und wandte mir das Gesicht zu. Sie hatte noch immer diesen tiefen Schnitt neben dem Auge. »Sagen Sie, Mister Aufziehvogel - sind Sie sauer auf mich?«
»Weiß ich nicht genau. Ich hab noch an tausend andere Dinge zu denken, bevor ich Zeit habe, auf dich sauer zu sein.«
»Ist Ihre Frau zurück?«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie hat mir einen Brief geschrieben. Sie sagt, sie kommt nie wieder zurück.«
»Armer Mister Aufziehvogel«, sagte May Kasahara. Sie setzte sich auf, beugte sich ein wenig herüber und legte mir die Hand leicht auf das Knie. »Armer, armer Mister Aufziehvogel. Wissen Sie, Mister Aufziehvogel, vielleicht glauben Sie mir’s nicht, aber ich hatte wirklich vor, sie ganz zum Schluß aus dem Brunnen zu retten. Ich wollte Ihnen nur ein bißchen angst machen, Sie ein bißchen quälen. Ich wollte sehen, ob ich Sie so weit bringen könnte, daß Sie schreien. Ich wollte sehen, wie lang es dauern würde, bis Sie so fertig wären, daß Ihnen Ihre Welt abhanden kommt.«
Ich wußte nicht, was ich darauf antworten sollte, also nickte ich nur.
»Haben Sie geglaubt, daß ich’s ernst meinte, als ich gesagt hab, ich würd Sie da unten sterben lassen?«
Statt gleich zu antworten, rollte ich das Zitronenbonbonpapier zu einem Kügelchen zusammen. Dann sagte ich: »Ich war mir wirklich nicht sicher. Du klangst, als ob du’s ernst meintest, aber zugleich auch so, als versuchtest du nur, mir angst zu machen. Wenn du unten in einem Brunnen sitzt und redest mit jemandem oben, passiert etwas Komisches mit der Akustik: Du bekommst dann den Ausdruck der Stimme des anderen nicht mehr mit. Aber letzten Endes geht es gar nicht darum, was von beidem stimmt. Ich meine, die Wirklichkeit setzt sich irgendwie aus verschiedenen Schichten zusammen. Vielleicht hattest du also in der einen Wirklichkeit ernsthaft vor, mich zu töten, aber in der anderen nicht. Es hängt davon ab, welche Wirklichkeit du herausgreifst, und welche ich. « Ich steckte mein Bonbonpapierkügelchen in die Öffnung einer Sprite-Dose. »Würden Sie mir einen Gefallen tun, Mister Aufziehvogel?« sagte May Kasahara und deutete auf den Gartenschlauch im Gras. »Könnten Sie mich damit abspritzen? Es ist sooo heiß! Wenn ich mich nicht richtig naß mache, verbrutzelt mir noch das Hirn.«
Ich stand von meinem Liegestuhl auf und ging zu dem blauen Plastikschlauch. Als ich ihn vom Rasen aufhob, fühlte er sich warm und schlapp an. Ich griff hinter die Büsche und drehte den Hahn auf. Zuerst kam das heiße Wasser, das die Sonne im Schlauch aufgewärmt hatte, aber dann kühlte es immer mehr ab und spritzte schließlich ganz kalt heraus. May Kasahara legte sich auf den Rasen, und ich richtete einen schönen starken Strahl auf sie.
Sie schloß die Augen und gab ihren Körper dem Wasser hin. »Ah, fühlt sich das toll an! Das sollten Sie auch machen, Mister Aufziehvogel.«
»Das hier ist kein Badeanzug«, sagte ich, aber May Kasahara schien die Abkühlung wirklich zu genießen, und die Hitze war so groß, daß ich nicht widerstehen konnte. Ich zog mein durchgeschwitztes T-Shirt aus, beugte mich vor und ließ mir das kalte Wasser über den Kopf laufen. Da ich schon dabei war,
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