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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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gegangen?« Ich schüttelte den Kopf.
    »Ich will meine Nase nicht in Angelegenheiten stecken, die mich nichts angehen, aber so viel darf ich vielleicht sagen: Du solltest dich wirklich hinsetzen und dir ernsthaft überlegen, was dir am wichtigsten ist.«
    Ich nickte. »Ich habe darüber nachgedacht«, sagte ich. »Aber es ist alles so kompliziert und ineinander verheddert. Ich schaffe es irgendwie nicht, die einzelnen Dinge auseinanderzubekommen und mir eine Sache nach der anderen vorzunehmen. Ich weiß nicht, wie man Dinge entwirrt.«
    Mein Onkel lächelte. »Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, du solltest damit den Anfang machen, daß du über die einfachsten Dinge nachdenkst, und dich von da aus weiter vorarbeiten. Du könntest dich zum Beispiel irgendwo an eine Straßenecke stellen und dir tagein, tagaus die Leute ansehen, die da vorbeigehen. Du bist nicht in Eile, irgendwelche Entscheidungen zu treffen. Es mag dich hart ankommen, aber manchmal mußt du einfach innehalten und dir Zeit nehmen. Du solltest dich darin üben, die Dinge mit deinen eigenen Augen zu betrachten, bis sich etwas herausschält. Und scheu dich nicht, dafür Zeit zu investieren. Sich viel Zeit für etwas zu nehmen, kann die raffinierteste Form von Rache sein.«
    »Rache?! Was meinst du denn mit ›Rache‹? Rache an wem?«
    »Das wirst du bald genug verstehen«, sagte mein Onkel lächelnd.
     
    Alles in allem saßen wir eine gute Stunde trinkend auf der Veranda. Dann erklärte mein Onkel, er sei schon zu lange geblieben, stand auf und ging. Wieder allein, ging ich zurück auf die Veranda, lehnte mich mit dem Rücken gegen einen Pfosten und schaute in den mondbeschienenen Garten hinaus. Eine Zeitlang gelang es mir, in der reinen Luft des Realitätssinns, oder was immer mein Onkel da zurückgelassen hatte, tief durchzuatmen, und zum ersten Mal seit sehr langer Zeit fühlte ich mich wirklich erleichtert.
    Nach wenigen Stunden aber begann diese Atmosphäre sich zu verflüchtigen, und wieder einmal hüllte mich so etwas wie ein Mantel blassen Kummers ein. Am Ende war ich wieder in meiner Welt, und mein Onkel war in seiner.
     
    Mein Onkel hatte gesagt, ich sollte als erstes über die wirklich einfachen Dinge nachdenken, aber es gelang mir nicht, zwischen Einfachem und Schwierigem zu unterscheiden. Und so stieg ich am nächsten Morgen, sobald die Rush-hour vorbei war, in den Zug nach Shinjuku. Ich hatte beschlossen, mich einfach hinzustellen und mir die Gesichter der Leute anzusehen. Ich wußte nicht, ob das irgend etwas nützen würde, aber es war wahrscheinlich besser, als nichts zu tun. Wenn es ein Beispiel für etwas Einfaches war, sich die Gesichter der Leute anzusehen, bis man es leid wurde, dann konnte es nicht schaden, das einmal auszuprobieren. Wenn es gut lief, gab es mir womöglich einen Hinweis darauf, worin die »einfachen« Dinge für mich bestanden.
    Am ersten Tag verbrachte ich zwei geschlagene Stunden auf der niedrigen Backsteinmauer, die das erhöhte Blumenbeet vor dem Shinjuku-Bahnhof umgab. Aber das Gedränge war einfach zu groß, und die Leute gingen viel zu schnell vorbei Ich schaffte es nicht, mir auch nur ein einziges Gesicht richtig anzusehen. Obendrein kam, als ich eine Weile dagesessen hatte, ein Stadtstreicher zu mir her und fing ein großes Palaver an. Ein Polizist kam mehrere Male vorbei und warf mir argwöhnische Blicke zu. Also verließ ich den überfüllten Bahnhofsvorplatz und beschloß, mir eine Stelle zu suchen, die sich für die beschauliche Beobachtung von Passanten besser eignete.
    Ich ging durch die Fußgängerunterführung auf die Westseite des Bahnhofs, und nachdem ich eine Weile umhergeschlendert war, fand ich einen kleinen gekachelten Platz, unmittelbar vor der Glasfassade eines Hochhauses. Dort gab es eine kleine Plastik und ein paar hübsche Bänke, so daß ich mich hinsetzen und mir die Passanten ansehen konnte, solange ich wollte. Sie waren dort bei weitem nicht so zahlreich wie vor dem Haupteingang des Bahnhofs, und es gab hier auch keine Obdachlosen mit Schnapsflaschen in der Tasche. Dort verbrachte ich den Tag, begnügte mich mittags mit ein paar Doughnuts und Kaffee aus Dunkin’ Donuts und fuhr wieder nach Hause, bevor der Feierabendverkehr einsetzte. Anfangs fielen mir - dank der Prägung, die ich durch die Arbeit mit May Kasahara erhalten hatte - nur Männer mit zurückgehendem Haaransatz ins Auge. Ehe ich mich versah, blieb mein Blick an einer Glatze hängen, und ich hatte den

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