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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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geschwitzt hab. Drum hab ich beschlossen, in eine etwas normalere Welt zurückzukehren. Aber wenn ich Sie nicht hier getroffen hätte - hier, vor diesem leerstehenden Haus -, glaube ich nicht, daß sich die Dinge so entwickelt hätten. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, wieder zur Schule zu gehen. Ich würde weiter in einer nicht-ganz-normalen Welt herumhängen. So gesehen, liegt’s alles nur an Ihnen, Mister Aufziehvogel. Sie sind nicht völlig unnütz.«
    Ich nickte. Es war das erste Mal seit langer Zeit, daß jemand etwas Nettes über mich gesagt hatte.
    »Kommen Sie mal her, Mister Aufziehvogel«, sagte May Kasahara. Sie richtete sich auf ihrem Liegestuhl auf. Ich stand von meinem auf und ging zu ihr hinüber. »Setzen Sie sich hier hin, Mister Aufziehvogel«, sagte May Kasahara. Ich gehorchte und setzte mich neben sie. »Zeigen Sie mir Ihr Gesicht, Mister Aufziehvogel.«
    Sie starrte mich eine Zeitlang unverwandt an. Dann legte sie eine Hand auf mein Knie und preßte die andere flach auf das Mal an meiner Wange. »Armer Mister Aufziehvogel«, sagte May Kasahara ganz, ganz leise. »Ich weiß daß Sie sich alle möglichen Dinge aufhalsen werden. Noch bevor Sie auch nur was davon merken. Und Sie werden überhaupt keine Wahl haben. So wie ein Feld den Regen hinnimmt. Und jetzt machen Sie die Augen zu, Mister Aufziehvogel. Richtig fest zu. Wie zugeklebt.« Ich machte die Augen fest zu.
    May Kasahara führte ihre Lippen an mein Mal - ihre Lippen, so klein und schmal wie eine sehr gute Nachahmung. Dann öffnete sie diese Lippen und fuhr mit der Zunge über mein Mal - ganz langsam, ohne ein Fleckchen auszulassen. Die Hand, die sie auf mein Knie gelegt hatte, blieb die ganze Zeit da liegen. Das warme, feuchte Gefühl ihrer Berührung erreichte mich aus weiter Ferne, von noch weiter her, als wenn es alle Weltgefilde durchquert hätte. Dann nahm sie meine Hand und führte sie an ihre Wunde neben dem Auge. Ich streichelte die zentimeterlange Narbe. Als ich es tat, drangen die Wellen ihres Bewußtseins pulsierend durch meine Fingerspitzen und in mich hinein - zarte Schwingungen von Sehnsucht. Jemand sollte dieses Mädchen in die Arme nehmen und festhalten, dachte ich. Wahrscheinlich jemand anders als ich. Jemand, der ihr etwas zu geben hat. »Wiedersehen, Mister Aufziehvogel. Bis zum nächsten Mal, irgendwann.«

16
    D IE EINFACHEN DINGE
    VORNEHME RACHE
    DAS DING IM GITARRENKASTEN
     
    Am nächsten Tag rief ich meinen Onkel an und sagte ihm, ich würde möglicherweise in ein paar Wochen aus dem Haus ausziehen. Ich entschuldigte mich dafür, daß ich ihn damit so überrumpelte, erklärte aber, der Grund sei, daß Kumiko mich genauso ohne Vorwarnung verlassen habe. Es hatte keinen Zweck mehr, die Sache zu verheimlichen. Ich sagte ihm, daß sie geschrieben hatte, sie komme nicht mehr zurück, und daß ich eine Zeitlang wegwolle, aber für wie lange, könne ich noch nicht sagen. Auf meine summarische Erklärung folgte am anderen Ende der Leitung ein nachdenkliches Schweigen. Meinem Onkel schien etwas durch den Kopf zu gehen. Dann sagte er: »Was dagegen, wenn ich an einem der nächsten Tage auf einen Besuch vorbeikomme? Ich würde mir gern mit eigenen Augen ansehen, was da los ist. Und ich war mittlerweile schon ziemlich lang nicht mehr in dem Haus.«
     
    Mein Onkel kam am übernächsten Abend vorbei. Er schaute auf mein Mal, sagte aber nichts dazu; wahrscheinlich wußte er nicht, was. Er hatte mir eine Flasche guten Scotch mitgebracht und eine Packung Fischpasteten, die er in Odawara gekauft hatte. Wir setzten uns auf die Veranda, aßen die Pasteten und tranken Whisky.
    »Was für ein Genuß, wieder einmal auf einer Veranda zu sitzen«, sagte mein Onkel und nickte mehrmals. »Unsere Eigentumswohnung hat natürlich keine. Manchmal vermisse ich dieses Haus richtig. Auf einer Veranda gerät man in ganz besondere Stimmung, die man sonst nirgendwo findet.«
    Eine Zeitlang saß er nur so da und betrachtete den Mond, eine schlanke weiße Mondsichel, die aussah, als sei sie gerade erst fertiggeschliffen worden. Daß einfach so ein Ding tatsächlich noch immer am Himmel schweben konnte, kam mir fast wie ein Wunder vor.
    Dann fragte mein Onkel ganz beiläufig: »Wie kommst du zu diesem Mal?«
    »Ich weiß es wirklich nicht«, sagte ich und nahm einen großen Schluck Whisky. »Auf einmal war es da. Vielleicht vor einer Woche? Ich wollte, ich könnt’s besser erklären, aber ich weiß einfach nicht, wie.«
    »Bist du damit zum Arzt

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