Mister Aufziehvogel
Klingelknopf.
Geöffnet wurde die Tür von einem schlanken jungen Mann mit kurzen Haaren und äußerst regelmäßigen Gesichtszügen. Er war der vielleicht bestaussehende Mann, den ich in meinem ganzen Leben gesehen hatte. Aber noch mehr als sein Aussehen fesselte seine Kleidung meine Aufmerksamkeit. Er trug ein Hemd von fast buchstäblich blendendem Weiß und eine feingemusterte, dunkelgrüne Krawatte. Die Krawatte war nicht nur für sich genommen sehr elegant, sie war auch zu einem tadellosen Knoten geschlungen, wie man ihn so formvollendet nur in einem Journal für Herrenmode zu sehen erwarten würde. Ich wäre nie imstande gewesen, einen so schönen Knoten zu binden, und ich fragte mich, wie er das fertigbrachte. War es eine angeborene Begabung oder das Resultat disziplinierter Übung? Seine Hose war dunkelgrau, und er trug braune Halbschuhe mit Troddeln. Alles sah brandneu aus, als habe er es vor wenigen Minuten zum allerersten Mal angezogen.
Er war etwas kleiner als ich. Um seine Lippen spielte der Anflug eines Lächelns, als habe er gerade einen Witz gehört und lächele nun auf vollkommen natürliche Weise. Und es war gewiß kein ordinärer Witz gewesen: eher eine feine scherzhafte Bemerkung, wie sie der Außenminister während einer Gartenparty vor dreißig Jahren - zum entzückten Kichern aller Umstehenden - gegenüber dem Kronprinzen hätte fallenlassen können. Ich machte Anstalten, mich vorzustellen, aber er gab mir mit einem leichten Kopfschütteln zu verstehen, ich bräuchte nichts zu sagen. Er hielt mir die Tür auf und ließ mich eintreten, dann warf er einen raschen Blick den Flur hinauf und hinunter und schloß die Tür wieder - alles ohne ein Wort zu sagen. Mit leicht zusammengekniffenen Augen sah er mich an, als entschuldigte er sich dafür, daß er wegen des nervösen schwarzen Panthers, der neben ihm schlief, nicht reden könne. Was nicht heißen soll, daß ein schwarzer Panther neben ihm schlief: es wirkte nur so.
Ich stand jetzt in einem Empfangszimmer mit einer behaglich aussehenden Ledersitzgarnitur, einem altmodischen hölzernen Kleiderständer und einer Stehlampe. An der gegenüberliegenden Wand befand sich eine Tür, die anscheinend ins nächste Zimmer führte. Neben der Tür stand, dem Raum zugekehrt, ein schlichter Schreibtisch aus Eiche, auf dem ein großer Computer thronte. Das Tischchen, das vor dem Sofa stand, hätte gerade eben einem Telefonbuch Platz geboten. Ein freundlicher blaßgrüner Teppich bedeckte den Fußboden. Aus unsichtbaren Lautsprechern drangen leise die Klänge eines Haydn-Quartetts. An den Wänden hingen einige reizvolle Drucke von Blumen und Vögeln. Man sah auf den ersten Blick, daß dies ein makelloser Raum war, ohne die leiseste Spur von Unordnung. An einer Wand befestigte Regale enthielten Stoffmuster und Modezeitschriften. Die Einrichtung war weder luxuriös noch neu, aber von der erwärmenden Behaglichkeit des Altvertrauten.
Der junge Mann führte mich zum Sofa, dann ging er um den Schreibtisch herum und setzte sich, mir zugewandt. Mit offen erhobenen Händen bedeutete er mir, mich ein kleines Weilchen zu gedulden. Statt zu sagen: »Tut mir leid, daß Sie warten müssen«, lächelte er mir leicht zu, und statt zu sagen: »Es wird nicht lange dauern«, hielt er einen Finger in die Höhe. Sichtlich beherrschte er die Kunst, sich ganz ohne Worte verständlich zu machen. Zum Zeichen, daß ich verstanden hatte, nickte ich einmal. Zu sprechen wäre mir in seiner Gegenwart ungehörig und vulgär vorgekommen.
So behutsam wie einen zerbrochenen Gegenstand nahm er ein Buch in die Hand, das neben dem Computer lag, und schlug es da auf, wo er offenbar zu lesen aufgehört hatte. Es war ein dickes schwarzes Buch ohne Schutzumschlag, so daß ich den Titel nicht ausmachen konnte. Von dem Augenblick an, in dem er es aufschlug, sah man, daß sich der junge Mann vollkommen auf sein Buch konzentrierte. Er schien vergessen zu haben, daß ich überhaupt da war. Ich hätte auch gern etwas zu lesen gehabt, um mir die Wartezeit zu verkürzen, aber es war nichts da. Ich schlug die Beine übereinander, machte es mir auf dem Sofa bequem und hörte Haydn zu (obwohl ich im Ernstfall nicht hätte beschwören können, daß es wirklich Haydn war). Es war hübsch, aber Musik von der Sorte, die sich im selben Augenblick, wo sie aus dem Lautsprecher dringt, in Luft aufzulösen scheint. Außer dem Computer befanden sich auf dem Schreibtisch des jungen Mannes ein gewöhnliches schwarzes
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