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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ins Zimmer, als wolle er den Jungen vor irgend etwas warnen. Der Junge erschauderte und schloß das Fenster. Das da, das wußte er, war ein besonderer Vogel, keiner von der Sorte, die sich ohne Scheu den Menschen zeigt, wie ein Spatz oder eine Taube. Die meisten Nachtvögel seien listig und vorsichtig, hatte der Junge in seiner Enzyklopädie gelesen. Der Vogel wußte wahrscheinlich, daß er nach ihm Ausschau hielt. Solange er darauf wartete, daß sich der Vogel zeigte, würde er nie hervorkommen. Der Junge fragte sich, ob er auf die Toilette gehen sollte. Das hieße, den langen, dunklen Korridor entlangzugehen. Nein, er würde sich einfach wieder ins Bett legen. So dringend war es nicht, es konnte ohne weiteres bis morgen früh warten.
    Der Junge schaltete das Licht aus und machte die Augen zu, aber der Gedanke an den Vogel in der Kiefer hielt ihn wach. Das helle Mondlicht quoll unter den Vorhängen herein: Es war wie eine Einladung. Als der Aufziehvogel noch einmal schrie, sprang der Junge aus dem Bett. Diesmal ohne das Licht einzuschalten, streifte er sich eine Strickjacke über den Pyjama und kletterte auf den Stuhl. Er schob die Vorhänge einen winzigen Ritz auseinander und spähte in die Krone der Kiefer hinauf. So würde der Vogel nicht merken, daß der Junge da war.
     
    Was der Junge diesmal allerdings sah, waren die Silhouetten zweier Männer. Er schnappte nach Luft. Die Männer knieten wie zwei schwarze Schatten am Fuß der Kiefer. Beide waren dunkel angezogen. Einer hatte nichts auf dem Kopf, der andere schien einen Filzhut zu tragen. Warum sind diese fremden Männer mitten in der Nacht hier in unserem Garten? fragte sich der Junge. Warum bellte der Hund nicht nach ihnen? Vielleicht sollte er es sofort seinen Eltern sagen. Aber die Neugier hielt ihn am Fenster fest. Er wollte sehen, was die Männer da taten. Dann plötzlich schrie der Aufziehvogel wieder. Mehrmals stieß er seinen langgezogenen knarrenden Ruf in die Nacht. Die Männer schienen aber keine Notiz davon zu nehmen. Sie ruckten und rührten sich nicht und schauten nicht nach oben. Sie knieten weiter, einander zugewandt, am Fuß der Kiefer. Anscheinend unterhielten sie sich leise über irgend etwas, aber da die Äste das Mondlicht abhielten, konnte der Junge ihre Gesichter nicht sehen. Wenig später standen beide Männer im selben Augenblick auf. Der eine war gut zwanzig Zentimeter größer als der andere. Beide waren dünn, und der große (der mit dem Hut) trug einen langen Mantel. Der Kleine trug irgendwelche enger anliegenden Sachen. Der kleinere Mann näherte sich der Kiefer, blieb da stehen und sah in das Geäst hinauf. Nach einer Weile begann er, den Stamm zu tätscheln und mit beiden Händen zu umfassen, als prüfe er ihn; dann schwang er sich urplötzlich daran hoch. Völlig mühelos (so schien es jedenfalls dem Jungen) kletterte er nun wie ein Zirkusakrobat den Baum hinauf. Der Junge kannte diesen Baum wie einen alten Freund. Er wußte, daß es kein kleines Kunststück war, an ihm hochzuklettern. Sein Stamm war glatt und rutschig, und bis ziemlich weit oben war nichts, woran man sich festhalten konnte. Aber warum kletterte der Mann mitten in der Nacht auf den Baum? Versuchte er, den Aufziehvogel zu fangen? Der große Mann stand am Fuß des Baumes und sah nach oben. Kurz darauf verschwand der kleine Mann aus dem Blickfeld. Ab und an raschelten die Zweige, was bedeutete, daß er offenbar weiter die hohe Kiefer hinaufkletterte. Der Aufziehvogel würde ihn bestimmt kommen hören und wegfliegen. Der Mann war vielleicht ein guter Kletterer, aber der Aufziehvogel würde sich nicht so einfach fangen lassen. Mit etwas Glück würde es dem Jungen aber vielleicht gelingen, den Aufziehvogel beim Losfliegen kurz zu sehen. Er hielt den Atem an und wartete auf das Geräusch von Flügelschlägen, aber es kam und kam nicht, und ebensowenig ließ sich ein Schrei vernehmen.
     
    Sehr lange war kein Geräusch zu hören und keine Bewegung zu sehen. Alles war in das weiße, unwirkliche Licht des Mondes getaucht, der den Garten wie den nassen Grund eines Meeres erscheinen ließ, dessen Wasser gerade mit einem Schlag weggezaubert worden war. Gebannt starrte der Junge weiter die Kiefer und den zurückgebliebenen großen Mann an. Er hätte den Blick beim besten Willen nicht von der Szene losreißen können. Von seinem Atem beschlug die Fensterscheibe; draußen mußte es kalt sein. Die Hände in die Hüften gestemmt, stand der große Mann so reglos da, als sei er

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