Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
an der Stelle festgefroren, und sah nach oben. Der Junge stellte sich vor, daß der Mann sich wegen seines kleineren Gefährten Sorgen machte, daß er darauf wartete, daß der andere seinen Auftrag erledigte und dann wieder aus der Kiefer heruntergestiegen käme. Es wäre auch nicht verwunderlich, wenn der Mann sich Sorgen machte: Der Junge wußte, daß es noch schwieriger war, den hohen Baum hinunter- als hinaufzuklettern. Dann aber schritt der große Mann ganz plötzlich in die Nacht hinaus, als habe er das ganze Vorhaben aufgegeben.
    Der Junge hatte das Gefühl, als einziger übriggeblieben zu sein. Der kleine Mann war im Geäst der Kiefer verschwunden, und der große war irgendwoandershin gegangen. Der Aufziehvogel blieb stumm. Der Junge überlegte, ob er seinen Vater wecken sollte; aber der würde ihm diese Geschichte doch nie glauben, das wußte er. »Du hast bestimmt wieder geträumt«, würde sein Vater sagen. Es stimmte, der Junge träumte oft, und er hielt seine Träume oft für Wirklichkeit, aber egal, was irgend jemand sagen würde: Das hier war wirklich - der Aufziehvogel und die zwei Männer in Schwarz. Sie waren bloß auf einmal verschwunden, das war alles. Sein Vater würde ihm schon glauben, wenn er ihm ganz genau erzählte, was passiert war.
    In diesem Moment fiel es dem Jungen ein: Der kleine Mann ähnelte sehr seinem Vater. Natürlich war er kleiner als der Vater des Jungen, aber sonst glich er ihm in allem: im Körperbau, in den Bewegungen. Aber nein, sein Vater wäre nie imstande, so auf einen Baum zu klettern. So gewandt und kräftig war er nicht. Je länger der Junge darüber nachdachte, desto verwirrter wurde er.
    Der große Mann kehrte zum Baum zurück. Jetzt hatte er etwas in den Händen - eine Schaufel und eine große Stofftasche. Er setzte die Tasche ab und begann, nah am Fuß des Baumes zu graben. Die Schaufel stach mit einem scharfen, klaren Geräusch in die Erde. Jetzt müssen doch alle aufwachen, dachte der Junge. Es war so ein lautes, klares Geräusch!
    Aber niemand wachte auf. Der Mann grub unbeirrt weiter, er schien keinen Gedanken darauf zu verschwenden, daß ihn jemand hören könnte. Er war zwar lang und dünn, aber - nach der Art, wie er die Schaufel führte, zu urteilen - weit kräftiger, als er aussah. Er arbeitete mit ruhigen, sparsamen Bewegungen. Als das ausgehobene Loch so groß war, wie er es haben wollte, lehnte der Mann die Schaufel an den Baum und blieb mit gesenktem Blick da stehen. Er sah nicht ein einziges Mal nach oben, als habe er den Mann, der auf den Baum geklettert war, völlig vergessen. Im Moment interessierte er sich offenbar einzig und allein für das Loch. Das mißfiel dem Jungen; ER wäre wegen des Mannes im Baum besorgt gewesen.
    An der Menge von Erde, die der Mann herausgeschaufelt hatte, sah der Junge, daß das Loch nicht allzu tief sein konnte - er selbst hätte wohl nicht viel mehr als knietief darin gestanden. Der Mann schien mit Form und Größe der Grube zufrieden zu sein. Er beugte sich über die Tasche und holte behutsam einen schwärzlichen, in Stoff gewickelten Gegenstand daraus hervor, der offenbar weich und schlaff war; so hielt ihn der Mann jedenfalls. Vielleicht war der Mann dabei, eine Leiche in dem Loch zu vergraben. Bei diesem Gedanken fing das Herz des Jungen an zu rasen. Aber das eingewickelte Ding war nicht größer als eine Katze. Falls es sich um einen Menschen handelte, konnte es nur ein Säugling sein.
    Aber warum muß er so etwas unbedingt in meinem Garten begraben? dachte der Junge. Er schluckte den Speichel, der sich, ohne daß er es gemerkt hatte, in seinem Mund angesammelt hatte. Das laute Glucksen, das er dabei machte, ließ ihn erschrocken zusammenfahren. Vielleicht war es so laut gewesen, daß der Mann draußen es hatte hören können.
    Als habe ihn das Schlucken des Jungen aufgeweckt, schrie in diesem Augenblick der Aufziehvogel los und zog eine noch größere Feder als vorhin auf: Schnaaarrr. Schnaaarrr.
    Als der Junge diesen Schrei hörte, wußte er intuitiv, daß gleich etwas sehr Wichtiges passieren würde. Ohne es zu merken, biß er sich auf die Lippe und kratzte sich an den Armen. Er wußte, daß er das alles niemals hätte sehen dürfen. Aber jetzt war es zu spät; jetzt war es ihm nicht mehr möglich, die Augen von der Szene loszureißen. Gefesselt von dem seltsamen Schauspiel, das sich in seinem Garten entrollte, öffnete er den Mund und preßte die Nase gegen die kalte Fensterscheibe. Inzwischen hatte er jede

Weitere Kostenlose Bücher