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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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roch, ein anderes war als dasjenige der gutangezogenen Dame, die mich hierherbeordert hatte. Ich hörte das leise Rascheln von Kleidern, als die Frau das Zimmer durchquerte und anmutig rechts von mir auf dem Sofa Platz nahm. Die Leichtigkeit, mit der sie sich auf die Sofapolster niederließ, verriet, daß sie zierlich war. Nun starrte sie mich an. Ich spürte, daß ihr Blick sich auf mein Gesicht konzentrierte. Auch wenn man nichts sieht, kann man tatsächlich spüren, daß jemand einen ansieht, erkannte ich. Ohne sich im mindesten zu bewegen, sah mich die Frau lange weiter an. Ich spürte ihr langsames, sanftes Atmen, hörte jedoch nicht das leiseste Geräusch. Ich blieb in derselben Haltung sitzen, mit dem Gesicht nach vorn. Das Mal an meiner Wange fühlte sich fiebrig an; seine Farbe war wahrscheinlich intensiver als gewöhnlich. Schließlich streckte die Frau die Hand aus und legte ihre Fingerspitzen auf mein Mal - sehr behutsam, als inspizierte sie etwas Kostbares, Zerbrechliches. Dann begann sie, das Mal zu streicheln.
    Ich wußte weder, wie ich darauf reagieren sollte, noch welche Reaktion man von mir erwartete. Die Wirklichkeit war mir sehr fern. Ich fühlte mich seltsam losgelöst, als versuchte ich, von einem fahrenden Fahrzeug auf ein zweites zu springen, das sich mit anderer Geschwindigkeit bewegte. Ich existierte im leeren Raum zwischen den beiden, wie ein leerstehendes Haus. Ich war nun ein leerstehendes Haus, genau wie einst das Haus der Miyawakis. Diese Frau war in das leerstehende Haus gekommen und ließ ihre Hände aus unbekannten Gründen über sämtliche Wände und Pfeiler gleiten. Was immer ihr Motiv sein mochte - als das leerstehende Haus, das ich war (und ich war das und sonst nichts), konnte ich nichts dagegen unternehmen (brauchte ich nichts dagegen zu unternehmen). Sobald mir dieser Gedanke durch den Kopf gegangen war, gelang es mir, mich ein wenig zu entspannen.
    Die Frau sagte nichts. Vom Rascheln ihrer Kleider abgesehen, herrschte im Zimmer tiefe Stille. Die Frau fuhr mit den Fingerkuppen über meine Haut, als versuche sie, eine winzige Geheimschrift zu entziffern, die vor Ewigkeiten darin eingraviert worden war.
    Schließlich hörte sie auf, mein Mal zu liebkosen. Sie stand auf, trat hinter mich und benutzte jetzt statt der Finger ihre Zunge. Genau wie May Kasahara es im letzten Sommer im Garten getan hatte, leckte sie über mein Mal, jedoch auf weit erwachsenere Weise als May Kasahara damals. Wie ihre Zunge sich bewegte und an mir haftete, war weitaus raffinierter. Mit wechselndem Druck, mit überraschenden Bewegungen und aus immer neuen Richtungen kostete sie mein Mal, sog daran und reizte es. Unterhalb der Gürtellinie verspürte ich ein heißes, feuchtes Pochen. Ich wollte keine Erektion; das wäre zu absurd. Aber ich konnte es nicht verhindern.
    Krampfhaft bemühte ich mich, mein Bild von mir mit dem des leerstehenden Hauses zu verschmelzen. Ich stellte mir mich als Pfeiler vor, als Wand, als Decke, als Stein, Fußboden, Dach, Fenster, Tür. Es schien mir das Vernünftigste zu sein, was ich tun konnte.
    Ich schließe die Augen und trenne mich von diesem meinem Körper mit den schmutzigen Tennisschuhen, der grotesken Schwimmbrille, der tölpelhaften Erektion. Es ist gar nicht so schwierig, sich vom Körper zu lösen. Es macht mich viel gelassener, erlaubt mir, das Unbehagen abzustreifen, das ich verspüre. Ich bin ein unkrautüberwucherter Garten, ein flugunfähiger steinerner Vogel, ein trockener Brunnen. Ich weiß, daß sich in diesem leerstehenden Haus, das ich bin, eine Frau aufhält. Ich kann sie nicht sehen, aber das stört mich nicht mehr. Wenn sie hier drinnen etwas sucht, kann ich es ihr ruhig auch geben.
     
    Der Ablauf der Zeit wird zunehmend unklarer. Bei all den verschiedenen Arten von Zeit, die mir hier zur Verfügung stehen, verliere die Übersicht darüber, welche ich gerade verwende. Mein Bewußtsein kehrt nach und nach in meinen Körper zurück, und dafür scheint die Frau hinauszugehen. Sie verläßt den Raum ebenso leise, wie sie ihn betreten hat. Das Rascheln von Kleidern. Der flirrende Duft von Parfüm. Das Geräusch einer Tür, die sich öffnet, dann schließt. Ein Teil meines Bewußtseins ist weiterhin dort, als ein leeres Haus. Gleichzeitig bin ich weiterhin hier, auf diesem Sofa, als »ich«. Ich überlege: Was soll ich jetzt tun? Was von beiden die Wirklichkeit ist, kann ich nicht entscheiden. Nach und nach scheint sich das Wort »hier« in meinem Innern zu

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