Mister Aufziehvogel
Telefon, eine Stiftablageschale und ein Kalender. Ich trug praktisch das gleiche wie am Tag davor - Baseballjacke, Kapuzensweatshirt, Jeans und Tennisschuhe. Bevor ich aus dem Haus gegangen war, hatte ich mir einfach das erste gegriffen, was mir in die Hände geraten war. In diesem makellosen, ordentlichen Zimmer, in Gegenwart dieses makellosen, gutaussehenden jungen Mannes sahen meine Tennisschuhe ganz besonders dreckig und abgelatscht aus. Nein, sie waren dreckig und abgelatscht, undefinierbar grau, die Absätze praktisch nicht mehr vorhanden, das Obermaterial völlig durchlöchert. Die Schuhe hatten eine Menge durchgemacht und sich mit tödlicher Sicherheit stets mit allem vollgesogen, was ihnen in den Weg gekommen war. Seit einem Jahr hatte ich sie jeden Tag getragen, war damit unzählige Male über die Gartenmauer geklettert, war bei meinen Spaziergängen auf der Gasse gelegentlich in Hundescheiße getreten, war damit in den Brunnen gestiegen. Kein Wunder, daß sie dreckig und abgelatscht waren. Seit ich gekündigt hatte, war ich nie auf die Idee gekommen, mir Gedanken darüber zu machen, was für Schuhe ich anhatte. Als ich sie jedoch so eingehend musterte, wurde mir erneut eindringlich bewußt, wie allein ich war, wie weit die Welt mich hinter sich gelassen hatte. Es war an der Zeit, mir ein neues Paar Schuhe zu kaufen. Diese hier waren einfach nicht mehr tragbar. Bald darauf erreichte das Haydn-Stück sein Ende - ein abruptes und unordentliches Ende. Nach einer kurzen Pause begann irgendein Cembalostück von Bach (obwohl ich ebensowenig hätte schwören können, daß es wirklich Bach war). Ich schlug die Beine einmal so und einmal so übereinander. Das Telefon klingelte. Der junge Mann markierte die Stelle, bis zu der er gelesen hatte, mit einem Zettel, schob das Buch beiseite und nahm den Hörer ab. Er hielt ihn sich ans Ohr und nickte knapp. Er richtete die Augen auf seinen Schreibtischkalender und kreuzte etwas mit einem Bleistift an. Dann hielt er den Hörer nah an die Schreibtischplatte und schlug zweimal mit den Knöcheln auf das Holz, als klopfe er an eine Tür. Danach legte er auf. Das Telefonat hatte an die zwanzig Sekunden gedauert, und der junge Mann hatte nicht ein Wort gesprochen. Ja, seitdem er mich hereingelassen hatte, war nicht ein Laut über seine Lippen gekommen. Konnte er nicht sprechen? Taub war er mit Sicherheit nicht; schließlich war er ans Telefon gegangen und hatte sich angehört, was am anderen Ende gesagt worden war. Eine Zeitlang saß er nur so da und starrte wie in Gedanken auf sein Telefon. Dann stand er geräuschlos auf, ging um seinen Schreibtisch herum, kam geradewegs auf mich zu und setzte sich neben mich. Dann legte er seine Hände vollkommen parallel auf seine Knie. Es waren schlanke, feingliedrige Hände - wie bei seinem Gesicht auch nicht anders zu erwarten. Ein paar Fältchen waren an seinen Knöcheln und Fingergelenken schon zu sehen; Finger ohne Falten gibt es einfach nicht: Wenigstens ein paar davon brauchen sie, um sich bewegen und beugen zu können. Aber an seinen Fingern gab es davon nicht viele - nicht mehr als das notwendige Minimum. Ich betrachtete seine Hände so unauffällig, wie ich konnte. Dieser junge Mann, dachte ich, muß der Sohn der Dame sein. Seine Hände gleichen ihren. Als mir dieser Gedanke erst einmal gekommen war, fielen mir weitere Ähnlichkeiten auf: die kleine, etwas spitze Nase, die kristalline Klarheit der Augen. Das angenehme Lächeln hatte wieder begonnen, um seine Lippen zu spielen, es erschien und verschwand auf so natürliche Weise wie eine dem Spiel der Wellen preisgegebenen Höhle am Meer. Kurz darauf erhob er sich so geschmeidig, wie er sich neben mich gesetzt hatte, und seine Lippen bildeten lautlos die Worte: »Hier entlang, bitte.« Trotz des fehlenden Tons war mir klar, was er sagen wollte. Ich stand auf und folgte ihm. Er öffnete die innere Tür und führte mich hindurch.
Hinter der Tür befanden sich eine kleine Küche mit einem Waschbecken und jenseits davon ein weiterer Raum, dem Empfangszimmer, in dem ich gesessen hatte, recht ähnlich, jedoch eine Nummer kleiner. An einer Seite stand ein gut gealtertes Ledersofa von der gleichen Art wie dort, das Fenster hatte die gleiche Form; auch der Teppich war von gleicher Farbe wie der andere. Die Mitte des Raums nahm ein großer Arbeitstisch ein, auf dem übersichtlich Scheren, Schachteln mit Nähutensilien, Bleistifte und Musterbücher angeordnet lagen. Zwei Schneiderpuppen
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