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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Sie haben Ihre ganze Kraft und Ihr ganzes Schicksal aufgebraucht, um andere zu retten. Alle Ihre Samen sind anderswo verstreut worden, und jetzt ist Ihr Beutel leer. Haben Sie je so was Unfaires gehört? Sie tun mir leid, Mister Aufziehvogel, aus tiefstem Herzen leid. Ehrlich. Aber schließlich haben Sie es selbst so gewollt. Wissen Sie, was ich meine?«
    »Ja«, sagte ich.
    Ich spürte ein dumpfes Pochen in meiner rechten Schulter. Es ist also wirklich passiert, sagte ich mir. Das Messer hat mich wirklich geschnitten. Es hat mich als ein wirkliches Messer geschnitten.
    »Haben Sie Angst zu sterben, Mister Aufziehvogel?« fragte May Kasahara. »Na klar«, sagte ich. Ich hörte meine Stimme im Brunnen widerhallen. Es war meine Stimme, und gleichzeitig auch nicht. »Klar habe ich Angst, wenn ich mir vorstelle, hier unten in einem dunklen Brunnen zu sterben.«
    »Dann ade, armer Mister Aufziehvogel«, sagte May Kasahara. »Es tut mir leid, aber ich kann nichts für Sie tun. Ich bin weit, weit weg.«
    »Leb wohl, May Kasahara«, sagte ich. »Du hast im Bikini toll ausgesehen.« May Kasaharas Stimme war sehr leise, als sie sagte: »Ade, armer Mister Aufziehvogel.«
    Der Brunnendeckel schloß sich wieder dicht. Das Bild verblaßte. Aber nichts geschah. Das Bild war mit nichts verknüpft. Ich brüllte zum Brunnenmund hinauf: » May Kasahara, wo bist du, wenn ich dich brauche? «
     
    Das Wasser reichte mir bis zur Kehle. Jetzt schmiegte es sich mir wie eine Schlinge um den Hals. Es fiel mir schon im voraus immer schwerer zu atmen. Im Wasser versunken, arbeitete mein Herz sich ab, die ihm verbleibende Zeit abzuticken. Bei diesem Tempo würde es wohl noch knapp fünf Minuten dauern, bis das Wasser mir Mund und Nase bedecken und anfangen würde, meine Lungen zu füllen. Ich konnte den Kampf unmöglich gewinnen. Ich hatte diesen Brunnen wieder zum Leben erweckt, und seine Wiedergeburt würde mein Tod sein. Keine üble Art zu sterben, sagte ich zu mir. Die Welt ist voll von weit übleren Arten zu sterben. Ich schloß die Augen und versuchte, meinen bevorstehenden Tod so gelassen wie möglich zu akzeptieren. Ich bemühte mich, meine Angst zu bezwingen. Wenigstens hinterließ ich ein paar Dinge. Das war nicht viel, aber doch ein Pluspunkt. Ich versuchte zu lächeln, ohne großen Erfolg. »Aber ich habe Angst zu sterben«, flüsterte ich vor mich hin. Wie sich herausstellte, sollten das meine letzten Worte sein. Es waren keine sehr bemerkenswerten Worte, aber es war zu spät, um sie zu revidieren. Das Wasser reichte mir jetzt bis über den Mund. Dann stieg es mir bis zur Nase. Ich hörte auf zu atmen. Meine Lungen rangen verzweifelt nach Luft. Aber es gab keine Luft mehr. Es gab nur noch lauwarmes Wasser. Ich starb. Wie alle Menschen, die in dieser Welt leben.

36
    D IE GESCHICHTE VON DEN ENTENLEUTEN
    SCHATTEN UND TRÄNEN
    (MAY KASAHARAS STANDPUNKT: 6)
     
    Hallo mal wieder, Mister Aufziehvogel. He, kommen diese Briefe eigentlich bei Ihnen an?
    Ich meine, ich hab Ihnen tonnenweise Briefe geschrieben, und so langsam frag ich mich wirklich, ob die überhaupt bei Ihnen ankommen. Die Adresse, die ich die ganze Zeit benutze, ist ziemlich über den Daumen gepeilt, und ich schreib keinen Absender auf den Umschlag, also könnt’s ohne weiteres sein, daß sie sich einfach im » Leider-Gottes unzustellbar « -Regal von irgendeinem Postamt stapeln und ungelesen einstauben. Bislang hab ich mir gesagt: OK, wenn sie nicht ankommen, dann kommen sie eben nicht an, na und? Ich hab an den Dingern zwar wie ne Blöde gekritzelt, aber die Hauptsache war für mich, meine Gedanken zu Papier zu bringen. Das Schreiben fällt mir leicht, wenn ich weiß, daß ich Ihnen schreibe, Mister Aufziehvogel, ich weiß auch nicht warum. He, genau - warum wohl?
    Aber dieser Brief ist einer, den Sie wirklich lesen müssen. Ich hoffe und bete darum, daß er Sie erreicht.
    Jetzt möchte ich über die Entenleute schreiben. Ja, ich weiß, daß ich über die noch nie ein Wort verloren hab, aber jetzt kommt ’s.
    Ich hab Ihnen ja schon erzählt, daß diese Fabrik, in der ich arbeite, auf so einem riesigen Gelände steht, mit Wäldern und einem Teich und lauter so Sachen. Ist echt gut zum Spazierengehen. Der Teich ist ziemlich groß, und da leben die Entenleute, vielleicht zwölf Vögel insgesamt. Ich weiß nicht, wie ihre Familienverhältnisse sind. Ich nehm schon an, daß sie so ihre internen Arrangements haben, mit manchen Familienmitgliedern, die mit manchen anderen

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