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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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so ein Extradings, wie einen Babyfinger. Sie kann ihn aber so weggeklappt halten, daß die meisten Leute gar nichts davon merken. Sie ist wirklich hübsch.« Ich nickte wieder.
    »Glauben Sie, das liegt in der Familie? Daß es, wie sagt man … zur Abstammung gehört?«
    »Ich weiß nicht viel über Erbanlagen.«
    Sie hörte auf zu reden. Ich lutschte an meinem Zitronenbonbon und starrte unverwandt auf den Katzenpfad. Bislang hatte sich nicht eine einzige Katze blicken lassen.
    »Wollen Sie wirklich nichts trinken?« fragte sie. »Ich hole mir eine Coke.« Ich sagte, ich hätte keinen Durst.
    Sie stand von ihrem Liegestuhl auf und verschwand, ihr schlimmes Bein leicht nachziehend, zwischen den Bäumen. Ich hob ihre Zeitschrift vom Gras auf und blätterte ein wenig darin herum. Zu meiner großen Überraschung sah ich, daß es ein Herrenmagazin war, eins von den Hochglanz-Monatsheften. Die Frau auf dem Aufklappfoto trug ein dünnes Höschen, durch das man den Schlitz und die Schamhaare sah. Sie saß auf einem Hocker und hielt die Beine in einem abenteuerlichen Winkel gespreizt. Seufzend legte ich das Heft zurück, verschränkte die Hände auf der Brust und konzentrierte mich wieder auf den Katzenpfad.
     
    Es verging sehr viel Zeit, bis das Mädchen, mit einer Coke in der Hand, zurückkam. Die Hitze machte mir allmählich zu schaffen. So in der prallen Sonne, spürte ich, wie mein Gehirn zunehmend eintrübte. Das letzte, wozu ich jetzt Lust hatte, war nachzudenken.
    »Sagen Sie mir eins«, nahm sie ihr Geplauder von vorhin wieder auf. »Wenn Sie in ein Mädchen verliebt wären und es stellte sich raus, daß sie sechs Finger hat, was würden Sie tun?«
    »Sie an den Zirkus verkaufen«, antwortete ich.
    »Ernsthaft?«
    »Nein, natürlich nicht«, sagte ich. »Das sollte ein Witz sein. Ich glaube nicht, daß mich das stören würde.«
    »Selbst wenn Ihre Kinder das erben könnten?«
    Ich dachte einen Augenblick darüber nach.
    »Nein, ich glaube wirklich nicht, daß mich das stören würde. Was würde ein Extrafinger schon ausmachen?«
    »Und was, wenn sie vier Brüste hätte?« Auch darüber dachte ich kurz nach. »Ich weiß nicht.«
    Vier Brüste? Das konnte ja ewig so weitergehen. Ich beschloß, das Thema zu wechseln.
    »Wie alt bist du?« fragte ich.
    »Sechzehn«, sagte sie. »Gerade geworden. Erstes Jahr Oberschule.«
    »Fehlst du da schon lange?«
    »Wenn ich zuviel laufe, tut mir das Bein weh. Und ich habe diese Narbe am Auge. Meine Schule ist sehr streng. Die würden wahrscheinlich ganz schön nerven, wenn sie herausbekämen, daß ich vom Motorrad gefallen bin. Also bin ich einfach ›krank‹. Ich könnte ein ganzes Jahr aussetzen. Ich hab’s nicht eilig, in die nächste Klasse zu kommen.«
    »Kann ich mir vorstellen«, sagte ich.
    »Aber was Sie vorhin gesagt haben, daß Sie nichts dagegen hätten, ein Mädchen mit sechs Fingern zu heiraten, aber eins mit vier Brüsten schon …«
    »Das habe ich nicht gesagt. Ich hab gesagt, ich weiß es nicht.«
    »Warum wissen Sie’s nicht?«
    »Ich weiß nicht - es ist schwer, sich so was vorzustellen.«
    »Können Sie sich jemand mit sechs Fingern vorstellen?«
    »Klar, ich denk schon.«
    »Also warum nicht mit vier Brüsten? Wo ist da der Unterschied?« Ich dachte wieder einen Augenblick darüber nach, aber mir fiel keine Antwort ein. »Stelle ich zu viele Fragen?«
    »Sagen das die Leute zu dir?«
    »Ja, manchmal.«
    Ich wandte mich wieder zum Katzenpfad. Was zum Teufel hatte ich hier eigentlich verloren? Während der ganzen Zeit hatte sich nicht eine Katze blicken lassen. Die Hände noch immer auf der Brust verschränkt, machte ich die Augen für vielleicht dreißig Sekunden zu. Ich spürte, wie sich an verschiedenen Stellen meines Körpers Schweiß bildete. Die Sonne ergoß sich in mich mit einer seltsamen Schwere. Jedesmal, wenn das Mädchen ihr Glas bewegte, klirrte das Eis darin wie eine Kuhglocke.
    »Schlafen Sie ruhig, wenn Sie möchten«, flüsterte sie. »Ich weck Sie, wenn eine Katze aufkreuzt.«
    Ohne die Augen zu öffnen, nickte ich schweigend.
    Die Luft stand. Es war vollkommen still. Die Taube war längst verschwunden. Ich mußte unentwegt an die Frau am Telefon denken. Kannte ich sie wirklich? Weder ihre Stimme noch ihre Art zu sprechen hatten sich im entferntesten vertraut angehört. Aber daß sie mich kannte, stand außer Zweifel. Es hätte genausogut eine Szene von De Chirico sein können: der lange Schatten der Frau, der sich quer über eine leere

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