Mister Aufziehvogel
Haar mit dem Handtuch. Ich wollte etwas sagen, aber dann merkte ich, daß Kumiko weinte. Das war verständlich: Kumiko liebte den Kater. Er war seit kurz nach unserer Heirat bei uns gewesen. Ich warf mein Handtuch im Bad in den Wäschekorb und ging dann in die Küche, um mir ein kaltes Bier zu holen. Was für ein idiotischer Tag das gewesen war - ein idiotischer Tag eines idiotischen Monats eines idiotischen Jahres. Noboru Wataya, wo bist du? Hat der Aufziehvogel vergessen, dich aufzuziehen? Die Worte kamen mir wie Zeilen eines Gedichts in den Sinn.
Noboru Wataya,
Wo bist du?
Hat der Aufziehvogel vergessen,
Dich aufzuziehn?
Ich hatte mein Bier zur Hälfte ausgetrunken, als das Telefon zu klingeln anfing. »Nimmst du ab?« rief ich in die Dunkelheit des Wohnzimmers. »Ich nicht«, sagte sie. »Nimm du ab.«
»Ich hab keine Lust.«
Das Telefon klingelte immer weiter, rührte den Staub auf, der in der Dunkelheit schwebte. Keiner von uns beiden sagte ein Wort. Ich trank mein Bier, und Kumiko weinte lautlos weiter. Ich zählte zwanzig Klingelzeichen und gab es dann auf. Es hatte keinen Sinn, ewig weiterzuzählen.
2
V OLLMOND UND SONNENFINSTERNIS
VON PFERDEN, DIE IN DEN STÄLLEN STERBEN
Und ist es für einen Menschen überhaupt möglich, einen anderen vollkommen zu verstehen?
Wir können unendlich viel Zeit und Energie in den ernsthaften Versuch investieren, einen anderen Menschen kennenzulernen, aber wie weit können wir uns dessen innerstem Wesen, dessen Essenz letzten Endes nähern? Wir reden uns ein, den anderen gut zu kennen, aber wissen wir wirklich - von wem auch immer - etwas, was von Bedeutung wäre?
Eine Woche, nachdem ich meine Stelle in der Anwaltskanzlei aufgegeben hatte, fing ich an, ernsthaft über solche Dinge nachzudenken. Bis dahin hatte ich mich niemals - mein ganzes Leben lang nicht - mit derlei Fragen beschäftigt. Und warum nicht? Wahrscheinlich, weil ich schon alle Hände voll damit zu tun gehabt hatte zu leben. Ich war einfach zu beschäftigt gewesen, um über mich selbst nachzudenken.
Der Auslöser war ein triviales Ereignis, wie eben die meisten wichtigen Dinge auf der Welt geringfügige Anfänge haben. Eines Morgens, nachdem Kumiko, wie an jedem Arbeitstag, das Frühstück hinuntergeschlungen hatte und aus dem Haus gehetzt war, steckte ich die Wäsche in die Waschmaschine, machte das Bett, spülte das Geschirr und ging mit dem Staubsauger durch die Wohnung. Dann setzte ich mich mit dem Kater auf die Veranda und sah die Stelleninserate und die Sonderangebote durch. Als es Mittag wurde, aß ich und ging dann zum Supermarkt. Dort kaufte ich Lebensmittel für das Abendessen und, aus einem Regal mit Sonderangeboten, Waschmittel, Reinigungstücher und Toilettenpapier. Wieder zu Hause, bereitete ich das Abendessen vor und legte mich dann, bis Kumiko zurückkäme, mit einem Buch auf das Sofa.
Neuerdings ohne Anstellung, fand ich dieses Leben durchaus erfrischend. Nicht mehr in überfüllten U-Bahn-Zügen pendeln müssen, keine Leute mehr sehen müssen, die ich nicht sehen wollte. Und das Allerbeste war, ich konnte jedes mir passende Buch lesen, wann immer ich wollte. Ich hatte keine Ahnung, wie lange dieses entspannte Leben so weitergehen würde, aber einstweilen wenigstens, nach der ersten Woche, genoß ich es, und ich gab mir alle Mühe, nicht an die Zukunft zu denken. Dies war der einzige richtige, große Urlaub meines Lebens. Irgendwann mußte er zwangsläufig zu Ende gehen, aber bis dahin war ich fest entschlossen, ihn zu genießen.
An diesem bestimmten Abend gelang es mir allerdings nicht, mich ganz der Freude des Lesens hinzugeben, weil Kumiko sich verspätete. Sie war früher nie später als halb sieben von der Arbeit zurückgekommen, und wenn sie voraussah, daß es auch nur zehn Minuten später werden würde, informierte sie mich immer rechtzeitig. So war sie eben: fast zu gewissenhaft. Aber dieser Tag war eine Ausnahme. Sie war nach sieben noch immer nicht da, und es kam auch kein Anruf. Das Fleisch und die Gemüse waren so weit fertig, daß ich mich in dem Augenblick, da Kumiko nach Haus kam, ans Kochen machen konnte. Nicht, daß ich ein besonders lukullisches Mahl geplant hätte: Ich würde dünne Scheibchen Rindfleisch mit Zwiebeln, grünen Paprikas und Sojabohnensprossen anbraten, leicht salzen, pfeffern und mit Sojasoße und einem Schluck Bier ablöschen - ein Rezept aus meiner Junggesellenzeit. Der Reis war gar, die Miso-Suppe war warm, und die Gemüse waren
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