Mister Aufziehvogel
Straße legte und sich mir entgegenreckte, aber die Frau selbst ganz woanders, an einem Ort weit jenseits der Grenzen meines Bewußtseins. Eine Glocke läutete und läutete unaufhörlich neben meinem Ohr. »Schlafen Sie?« fragte das Mädchen mit einem so winzigen Stimmchen, daß ich nicht sicher war, ob ich es auch wirklich hörte. »Nein, ich schlafe nicht«, sagte ich.
»Kann ich näher ran? Es ist … einfacher, wenn ich weiter so leise spreche.«
»Mir recht«, sagte ich, die Augen noch immer geschlossen. Sie rückte ihren Liegestuhl näher, bis er mit einem trockenen hölzernen Klack gegen meinen stieß.
Merkwürdig, die Stimme des Mädchens klang völlig verschieden, je nachdem ob ich die Augen offen oder geschlossen hatte.
»Kann ich reden? Ich bin ganz leise, und Sie brauchen nicht zu antworten. Sie dürfen sogar einschlafen. Das stört mich nicht.«
»Okay«, sagte ich.
»Wenn Leute sterben, das ist schick.«
Ihr Mund war jetzt dicht neben meinem Ohr, so daß die Worte sich zusammen mit ihrem warmen, feuchten Atem in mich einschlichen. »Wieso das?« fragte ich.
Sie legte mir einen Finger auf die Lippen, wie um sie zu versiegeln. »Keine Fragen«, sagte sie. »Und die Augen zulassen. Okay?« Mein Nicken war so sparsam wie ihre Stimme.
Sie nahm den Finger von meinen Lippen und legte ihn auf mein Handgelenk. »Ich wollte, ich hätte ein Skalpell. Ich würde das Ding aufschneiden und reingucken. Nicht die Leiche … den Klumpen Tod. Es muß bestimmt so was geben. Etwas Rundes und Glibbriges, wie ein Softball, mit einem harten kleinen Kern von toten Nerven. Ich möchte das aus einem Toten rausholen und aufschneiden und reingucken. Ich frag mich immer, wie es wohl aussieht. Vielleicht ist es ganz hart, wie Zahnpasta, die in der Tube eingetrocknet ist. So muß es sein, meinen Sie nicht? Nein, nicht antworten. Es ist an der Außenseite glibbrig, und je tiefer man kommt, desto härter wird es. Ich möchte die Haut aufschneiden und das glibbrige Zeug rausholen, mich mit einem Skalpell und so was wie einem Spatel durcharbeiten, und je näher man an das Zentrum kommt, desto härter wird das Glibberzeugs, bis man diesen winzigen Kern erreicht. Er ist sooo winzig, wie eine kleine Kugellagerkugel, und richtig hart. So muß er sein, meinen Sie nicht?« Sie räusperte sich ein paarmal.
»Ich denke neuerdings an nichts anderes. Muß daran liegen, daß ich jeden Tag so viel Zeit totzuschlagen habe. Wenn man nichts zu tun hat, kriegt man auf die Dauer richtig unheimlich abgefahrene Gedanken - so abgefahren, daß man ihnen gar nicht bis zu Ende folgen kann.«
Sie nahm den Finger von meinem Handgelenk und trank den Rest ihrer Cola aus. Am Klang der Eiswürfel erkannte ich, daß das Glas leer war. »Machen Sie sich keine Gedanken wegen des Katers - ich halt nach ihm Ausschau. Ich sag’s Ihnen schon, wenn Noboru Wataya aufkreuzt. Lassen Sie die Augen zu. Ich bin sicher, daß Noboru Wataya hier irgendwo in der Gegend herumspaziert. Er wird jeden Augenblick hier sein. Er ist schon auf dem Weg hierher. Ich weiß, daß er schon auf dem Weg ist: durch das Gras, unter dem Zaun durch, kleine Pause hier und da, um an den Blumen zu schnuppern - langsam, aber sicher kommt Noboru Wataya immer näher. Denken Sie so an ihn, stellen Sie ihn sich so vor.« Ich versuchte, mir den Kater bildlich vorzustellen, aber das Beste, was ich zustande brachte, war eine verschwommene Gegenlichtaufnahme. Das Sonnenlicht, das durch meine Augenlider drang, verwirrte und verwischte meine innere Dunkelheit, was es mir unmöglich machte, eine genaue Vorstellung des Katers heraufzubeschwören. Was ich statt dessen produzierte, war ein mißglücktes Portrait, eine seltsame, verzerrte Kollage, die in bestimmten Details eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Original aufwies, an der aber die wichtigsten Merkmale fehlten. Ich konnte mir nicht einmal vergegenwärtigen, wie der Kater aussah, wenn er ging. Das Mädchen legte wieder den Finger auf mein Handgelenk und zeichnete mit der Spitze ein seltsames Diagramm von unklarer Form. Gleichsam als Reaktion darauf begann sich eine neuartige - von der Dunkelheit, die ich bis zu diesem Moment gewahrt hatte, qualitativ verschiedene - Finsternis in mein Bewußtsein zu graben. Ich war wahrscheinlich am Einschlafen; ich wollte es nicht, aber ich konnte mich in keiner Weise dagegen wehren. Mein Körper fühlte sich wie ein Leichnam an - der Leichnam eines anderen -, der in der Stoffbespannung des Liegestuhls versank. In der
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