Mit 50 hat man noch Träume
war es so weit.
Es war Sonntag, und die Wangs hatten zum Tag der offenen Tür geladen, um jedem,
der ihn sehen wollte, den Tempel vorzuführen. Mittlerweile hatte es sich auf angenehme
22 Grad abgekühlt, und kleine, weiße Wolken, die gemächlich über den Himmel segelten,
gaben dem Geschehen eine bilderbuchartige Friedlichkeit.
Der neue
Tempel erstrahlte in voller Pracht. Am Dachfirst des Hauptgebäudes reckten grünorange
bemalte Drachen die Köpfe, und im Innern sah der lachende Buddha gelassen den Ankömmlingen
entgegen. Er hatte einen neuen, goldenen Anstrich erhalten und blickte, da die Flügeltüren
des Gebäudes weit offen standen, von seinem Ehrenplatz auf dem Altar mitten auf
die Dorfstraße, auf der sich die Einwohner von Altenahr drängelten. Die Türen trugen
die Farbe der Freude, ein helles Rot, und damit hätten sie die Stimmung des Tages
nicht besser widerspiegeln können.
Die Brandspuren
am Boden waren verschwunden. Wang San hatte frische Erde aufgekippt und damit jede
Spur der Niedertracht ausgemerzt. Im Fischteich schwammen neben den schlammbraunen
Karpfen, die Zhang Liu nach wie vor regelmäßig opferte, auch Koikarpfen umher, die
für Glanzpunkte sorgten. Natürlich war auch die Presse anwesend. Journalisten führten
mit Lao Wang und Wang San Interviews, Fotografen suchten nach dem optisch schönsten
Blickwinkel, und die Einwohner Altenahrs kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Die meisten Menschen hatten ihre Berührungsangst verloren, und diejenigen, denen
der Tempel immer noch ein Dorn im Auge war, waren zu Hause geblieben.
Besonders
die Frauen unter den Besuchern zündeten Räucherstäbchen an oder warfen Orakel, die
von Mei Ling und Wang Ai für sie interpretiert wurden, und manche hatten ihren Spaß
daran, probehalber auch noch Papiergeld zu verbrennen, für die Ahnen oder wen auch
immer. Für die Kinder hatte Zhang Liu Lutscher aus klebrigem Reis gefertigt, die
aussahen wie kleine Drachen. Stundenlang hatte sie in der Küche gestanden und die
Süßigkeiten geduldig mit Lebensmittelfarbe so bunt bemalt, als sei jede einzelne
von ihnen ein Farbfeuerwerk aus der gesamten Palette. Ein Feuerschlucker führte
seine Künste vor, und die Kinder versteckten sich vor Ehrfurcht zwischen den Beinen
ihrer Mütter. Der Tag der offenen Tür hatte den Charakter eines Volksfestes angenommen.
Der Bürgermeister
hielt eine Rede. Er sprach von dunklen und von lichten Tagen, von Solidarität und
Verrat, und er sprach von der Zukunft Altenahrs als einem Ort, in dem multikulturelle
Strömungen und die Weltreligionen demnächst harmonisch nebeneinander existieren
würden.
»Dann bauen
wir doch gleich noch ’ne Moschee«, schimpfte Bens Vater mürrisch.
Aber solche
Stimmen gab es wenige.
Das ›Ahrstübchen‹
servierte an diesem Tag in Absprache mit den Wangs nur chinesisch-deutsche Gerichte.
Gemeinsam hatten sie herumexperimentiert, und auch John war in seinem Ideenreichtum
nicht zu bremsen gewesen. Herausgekommen waren so gelungene Kreationen wie Hirschbraten
süß-sauer, Lachsforelle auf Szechuan Art, also scharf, und Hausmacherspätzle mit
knackigem Algengemüse. Am Tage zuvor schon hatten sie unter Wang Sans Aufsicht gebraten
und gebacken, und inzwischen duftete es im ›Ahrstübchen‹ genauso intensiv wie im
Chinarestaurant nach Sojasauce, Knoblauch, Ingwer und Sternanis.
Caro und
Bea eilten zwischen den Tischen hin und her. Es war, wie auch bei den Chinesen,
brechend voll in der Gaststube, und ihren Gästen schien es großartig zu schmecken.
Im Vorbeilaufen
rief Caro Bruni zu, die wie immer hinter der Theke stand: »Weißt du schon, dass
Marianne Hohensteins Mann gestern eine Chinareise gebucht hat?«
»Nein!«
Bruni öffnete erneut den Zapfhahn und ließ helles Bitburger ins Glas laufen.
»Wollen
Sie wissen, wo es hingeht?«, fragte Hubertus Hohenstein und ließ sich auf einen
Barhocker plumpsen. Er war gerade hereingekommen und hatte Caros Frage eben noch
gehört.
»Na klar.
Schießen Sie los«, versetzte Bruni ungerührt.
Ȇber Hongkong
nach Guilin, weiter nach Shanghai, Suzhou und Peking, und von dort fliegen wir zurück
nach Frankfurt.«
»Beneidenswert«,
lobte sie und dachte für sich: Da würde ich auch gern hinfliegen. Sie erkundigte
sich danach, ob er mit seiner Frau die Große Mauer besichtigen würde.
»Das ist
Pflicht.« Hubertus Hohenstein fühlte einen tiefen Stolz in sich. Der Tag war ein
voller Erfolg, er hatte eine schöne Rede gehalten, die Presse würde voll des
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