Mit 50 hat man noch Träume
bevor er gemächlichen
Schrittes am Ende des Flurs durch eine Glastür verschwand. In Köln schauen sie einen
höchstens mürrisch an, ging ihr durch den Kopf. Im selben Moment spürte sie, wie
froh sie darüber war, jetzt hier und nicht dort zu sein.
Die Idee,
die sie hergeführt hatte, war ihr vor einigen Tagen gekommen, nachdem sie mit Caro
bei den Wangs gewesen war. Sie hatten erneut mit den Chinesen über John und das
Jobsharing gesprochen, denn seit es für ihn dort nur wenig zu tun gab, machte die
Abmachung keinen Sinn mehr. Er wohnte nach wie vor bei ihnen im Hotel, und hin und
wieder half er auch in der Küche mit. Im Grunde genommen war es aber eine Farce,
doch bislang hatte niemand es ausgesprochen. Ihnen allen war bewusst, dass bald
etwas passieren musste, wenn das Chinarestaurant gerettet werden sollte. Insgeheim
befürchteten die Freundinnen, dass die Chinesen bald aus Altenahr verschwinden würden.
Wie durch
eine Laune des Schicksals hatte sich das Blatt gewendet. Das ›Ahrstübchen‹ florierte
von Tag zu Tag besser, und so sehr die Freundinnen sich darüber freuten, so sehr
bedauerten sie, dass es dem nachbarschaftlichen Betrieb immer schlechter ging, denn
mittlerweile verband sie mit den Wangs eine innige Freundschaft. Als Bea und Caro
die Familie aufsuchten, schlugen sie vor, dass John ab sofort ganztags im ›Ahrstübchen‹
arbeiten sollte, und die Chinesen stimmten erleichtert zu.
Bea sah
auf. Die Tür zum Büro des Bürgermeisters öffnete sich, der Mann neben ihr erhob
sich sofort und begrüßte Hubertus Hohenstein wie einen alten Freund. Als der Bürgermeister
sie bemerkte, nickte er freundlich, aber sie meinte auch eine leichte Irritation
zu spüren. Schnell war er wieder in seiner Amtsstube verschwunden.
Die Begegnung
hatte nur wenige Sekunden gedauert, führte aber dazu, dass Bea wie so oft in den
letzten Tagen überlegte, was er zu ihrem Vorschlag wohl sagen mochte. Vielleicht
würde er ihn nur als Einmischung in Gemeindeangelegenheiten auffassen, die sie nichts
angingen, vielleicht aber auch nicht. Sie war sich jedoch sicher, dass ihre Überlegungen
plausibel genug waren, dass der Bürgermeister ihr zumindest zuhören würde. Letztendlich
war ihr Vorschlag ja auch in seinem Interesse, und im Grunde genommen würden sie
alle etwas davon haben. Bea strich sich sanft über ihr Dekolleté, mit Bedacht hatte
sie heute ein eng anliegendes T-Shirt mit Ausschnitt gewählt. Glücklicherweise hatte
sie einen kleinen Busen und konnte es problemlos tragen.
Ein Staubkörnchen
flog ihr ins Auge, und sie musste blinzeln. Ein bisschen rieb sie daran herum, dann
ließ sie ihre Hand sinken, betrachtete den feuchten Streifen an ihrem Finger, und
überließ sich wieder ihren Gedanken. Diese Wartesituationen waren Zeitlöcher. Es
gab keinen Anfangspunkt und kein Ende, alles Gedachte mischte sich und überlagerte
sich zu einer Dichte, die sich dann irgendwann in Nichts auflöste.
Sie wusste,
dass die Depression, unter der die Wangs seit den Vorkommnissen um den Tempel litten,
sich noch vertiefen konnte. Trotz Wang Ais Erfolg war der alte Chinese von Woche
zu Woche schweigsamer und klappriger geworden, und seine Frau ging mit täglich krummerem
Rücken, wie ihr schien, hinüber zum abgebrannten Tempel, wo sie den Ahnen Papiergeld
opferte und die Fische fütterte. Die Freude über Wang Ais erfolgreiches Fußballspiel
und die Tatsache, dass die ›Eintracht‹ um sie warb, war nur ein kurzes Zwischenhoch
gewesen und hatte sich wie eine Schönwetterfront nach ein paar Tagen wieder verzogen.
Noch immer war nicht geklärt, wie Wang Ais Aufenthalt in Deutschland bezahlt werden
sollte, der Tempelbau war nach wie vor nicht entschieden, und die Gäste blieben
aus. Bea hatte den Eindruck, als würde die Familie verharren und nur darauf warten,
dass das Damoklesschwert über ihnen niedergehen und sie endlich köpfen würde. Oder
sie würden eines schönen Tages einfach verschwunden sein. Ihr Magen krampfte sich
zusammen. Wang San bekam sie in letzter Zeit nur noch selten zu sehen. Meistens
hielt er sich in seinem Zimmer auf und las, wie sie von Mei Ling erfahren hatte.
Sein älterer Bruder Wang Yi verschwand, so oft es ging, mit Frau und Kindern nach
Köln, wo sie die Gesellschaft von Freunden suchten, und Wang Ai begleitete Mei Ling
ebenfalls beinahe täglich dorthin. Während ihre Cousine im Reisebüro arbeitete,
sah sie sich in den Museen der Stadt um oder schlenderte über die Schildergasse
und den Neumarkt,
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