Mit 80 000 Fragen um die Welt
hebt seinen linken Arm, nimmt Mittel- und Zeigefinger und lässt sie mehrmals auf- und zuschnappen. «Der Meisterbeschneider? Natürlich, unsere Frauen rauchen alle ohne Filter!»
Endlich ist die Kamera bereit, und ich bekomme das «full treatment», eine intensive orientalische Ganzkörpermassage. Nein, eine sehr intensive orientalische Ganzkörpermassage: Ein 15 0-Kilo -Mann mit breitem Schnurrbart und vollem Brusthaar greift sich mein rechtes Bein und meinen linken Arm, stellt sich auf meinen Rücken und zerrt so lange, bis jeder Knochen, jeder Wirbel und jedes Gelenk hörbar geknackt hat. Dann schreitet er langsam vom Po über die Wirbelsäule und bleibt auf meinen Schultern stehen. Aber das Schlimmste kommt erst. Bei mindestens fünfzig Grad klatschen immer mehr fette, fremde Schweißtropfen auf meinen Körper – europäische und asiatische Ausdünstungen vermischen sich. Alles fließt. War es das, was Pater Dositheos gemeint hat?
Der nächste Tag beginnt erstaunlicherweise ohne Rückenschmerzen und mit einem Anruf in aller Frühe. «Deniz!», brüllt die Dame. Und dann folgen noch zwei Wörter. Aber die machen mich glücklich.
«Interview! Eleven!»
Unfassbar. Ich habe tatsächlich einen Termin. Bei Kemal Özkan! Ich freue mich wie ein Kind. Pünktlich um elf stehe ich mit Thomas vor der Villa des Meisterbeschneiders. Sein Sohn Murat bittet uns hinein. Er spricht überraschend gut Englisch: «Nice to meet you», sagt er und gibt uns die Hand, «let me introduce you to my father.» Direkt hinter der Eingangstür ist eine silberne Honda aufgebockt,daneben steht Kemal Özkan. Lebensgroß und aus Pappe.
Über viele Treppen geht es hinunter in ein Kellergewölbe. Özkan junior erklärt, dies sei kein gewöhnliches Haus, ganz Istanbul nenne es liebevoll den «Beschneidungspalast».
An den Mauerwänden und sogar an der Decke kleben Hunderte Fotos von Kemal Özkan. Der Maestro hat sich offenbar durch die High Society geschnippelt. Die Bilder zeigen ihn mit Premierministern, Sängern und der Fußballmannschaft von Galatasaray Istanbul. Hat er sie alle beschnitten? «Yes, all of them! Lots of famous stars. And did you know that my father used to cut in a plane?»
«Du hast gesagt, er sei Künstler!», raunt Thomas mir zu.
«Ist er auch! Auf seinem Gebiet soll er ein Virtuose sein.»
Wir folgen Özkan junior auf eine Veranda, sie gehört zu einem offensichtlich florierenden Restaurant, das sich in Familienbesitz befindet. Es ist noch lange nicht Mittag, aber die meisten Tische sind schon besetzt. Die Vorhautlegende thront auf einem weißen Plastikstuhl. Ein alter Mann von etwa 75 Jahren, mit grauen Locken und getönter Sonnenbrille. Hätte er keinen Ziegenbart, könnte man ihn für Willy Millowitsch halten.
«Servus! Ich Kemal Özkan.»
Jetzt bin ich baff. Kemal Özkan, der Franz Beckenbauer unter den Beschneidern, spricht Deutsch. Na ja, das Nötigste.
«We have been to Stuttgart and Bielefeld», erklärt Özkan junior, «and we did some cutting parties there.»
«Cutting parties?»
«Yeah parties, big ones!»
Beschneidungspartys. Wie muss ich mir das vorstellen? Man betrinkt sich, plötzlich sind alle nackt, und dann greifendie Özkans zur Schere? Schon bald bekomme ich die Erklärung. Mit seinem eleganten schwarzen Gehstock richtet sich Kemal Özkan auf, und ich bemerke das goldene Amulett, das er um den Hals trägt. Darauf sind arabische Schriftzeichen aus Glitzersteinchen. Wie es sich für eine Legende gehört, schreitet Özkan langsam und würdevoll eine Treppe hinab, dabei stützen ihn zwei Bedienstete. Unten stehen beleuchtete Glasvitrinen mit Urkunden, Medaillen und Pokalen. In der Mitte des Raums ist eine Couch aus cremefarbenem Kunstleder, Kemal Özkan nimmt direkt neben mir Platz. Was für eine Ehre! Vom Sofa aus blicken wir auf einen breiten Flatscreen, der an der gegenüberliegenden Wand angebracht ist. Özkan junior startet einen Film.
«Du guck!», sagt Kemal Özkan, und geduldig sehe ich mir sein Video an. «Lass uns bitte abhauen», flüstert mir mein Kameramann zu. «Was ist das hier?»
«Warte ab. Das hat schon irgendwie mit dem Ende Europas zu tun.»
Wir sehen die Aufzeichnung der letzten Beschneidungsparty, die der Meister in seinem Palast veranstaltet hat. Eine Feier mit mindestens zehn Großfamilien.
Omas, Opas, Onkel, Tanten, Enkel und Urenkel sind von ihren Stühlen aufgesprungen und hopsen in einem Meer von Discolichtern auf einer gekachelten Tanzfläche herum. Aus den
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