Mit 80 000 Fragen um die Welt
Boxen dröhnt übersteuerte türkische Popmusik, und durch die klatschende Menge läuft ein Clown mit langen roten Haaren, der abwechselnd in eine Trillerpfeife bläst oder gnadenlos schief in ein Mikrophon singt. Die Helden des Abends, Jungs im Alter von fünf bis zwölf Jahren, sind wie kleine Sultane gekleidet. Ganz in Weiß mit glitzernder Weste, Scherpe und einem silbernen Turban auf dem Kopf.
In den Armen ihrer Mütter tanzen sie den letzten Tanz ihrer Kindheit. Bald werden sie Männer sein. Der Clown führt die Jungs in fußballförmige Sessel, die in den Vereinsfarben türkischer Klubs bemalt sind. Plötzlich bewegen sich die Fußbälle und gondeln wie an einer Schnur gezogen durch den Raum. Sie fahren auf Schienen.
«Schneidezug!», ruft Kemal Özkan.
«Ein Beschneidungszug?»
«Beschneidungszug, richtig.»
Die Bahn dreht mit den Kindern ein paar Runden, dann hält sie vor der Bühne, und die Jungen stellen sich in Reih und Glied. Özkan junior setzt ihnen eine lokale Betäubungsspritze. Solch einen Luxus habe es zu seiner Zeit nicht gegeben, erzählt Özkan: «Mein Onkel hat mich streng angeschaut – das war meine Narkose!»
Nach einer weiteren Runde mit der Beschneidungsbahn wird es ernst. Was nun passiert, lässt Özkan live und ungeschnitten auf mehrere Monitore in den Festraum übertragen. Es folgen Szenen, bei denen ich im entscheidenden Moment jedes Mal zusammenzucke. Dazu singt der Imam. Kemal Özkan schneidet übrigens nicht mehr persönlich. Das ist vielleicht auch besser so. «Die Augen», murmelt er, «die Augen!»
Nach der Prozedur stellen sich die tapferen Jungs wieder in eine Reihe und marschieren etwas benommen zu Trommelmusik und Applaus am Meister vorbei, der im Zentrum der Bühne auf einem Sofa mit roten Samtbezügen sitzt. Er gibt jedem Jungen «high five».
«Ich – Number – one!», spricht der Genitalmogul. «Num ber one in world!» Dabei stützt er seinen linken Arm auf die Sofalehne und ahmt mit Mittel- und Zeigefinger eine Schere nach. Dann legt er den Zeigefinger der rechtenHand dort hinein. «Hundert – zwanzig – tausend – Kind – geschnitzt!»
Unglaublich: 120 000 Vorhäute in einem Leben. Özkan ist ein Genie. Er hat aus dem fernöstlichen Beschneidungsritual etwas Ur-Westliches gemacht: eine Show. Darum ranken sich in Istanbul Legenden. Es heißt, Kemal Özkan soll schon auf Kamelen und auf dem Rücken eines Pferdes beschnitten haben. Und angeblich entfernte er in einem beispiellosen Marathon über 2000 Häute in 24 Stunden. Doch der Maestro hat noch Visionen.
«Ich denke immer, so wie eine Disneyland.»
«Sie meinen ein Beschneidungsdisneyland?»
«Jaja, Beschneidungsdisneyland», antwortet Kemal Özkan, und ich stelle mir einen leuchtenden Freizeitpark mit Fontänen und einem Free-Fall-Tower vor, den man durch eine überdimensionale rosafarbene Vorhaut betritt.
Ich möchte Beschneidungszug fahren, und Kemal Özkan lässt sich nicht lange bitten. Er ruft zwei Bedienstete, sie eilen sofort herbei, verlegen Schienen und tragen die Fußballsessel in den Saal. Özkan schlägt mir laut lachend auf den Rücken:
«Du Beschneidung jetzt?»
«Vielleicht, wenn Sie mir verraten, wo das Ende Europas ist!»
«Ich zeige dir», sagt der Meister und nimmt im schwarzweißen Sitz von Besiktas Istanbul Platz, ich wähle die Farben von Antalyaspor. Dann streckt Kemal den linken Arm in die Luft, formt eine Schere und gibt das Startsignal. «Jalla! Jalla!», ruft Özkan, während sich die Bahn langsam in Bewegung setzt. «Weiter! Weiter!» Der Zug wird immer schneller, dreht Runde um Runde und malt eine gigantische Vorhaut auf den gekachelten Grund des Palasts, einen Kreis ohneAnfang und ohne Ende. Und ich begreife, was Pater Dositheos mir sagen wollte: Alles fließt, alles kreist, alles vermischt sich. Kemal Özkan fährt mit seiner orientalischen Beschneidungsbahn buchstäblich immer weiter Richtung Westen, und wer weiß: Vielleicht wird er damit eines Tages tatsächlich in einen norddeutschen Bahnhof einfahren und den Schneidepark Soltau eröffnen.
Ich suche das Ende Europas, und Kemal Özkan schneidet die Enden Europas. Aber auch asiatische Enden. Und amerikanische Enden. Alle Enden dieser Welt. Grenzen gibt es nicht. Der Pater hatte recht: Europa endet nicht, Europa fließt.
KAPITEL 5
«WHERE ARE YOU GUYS FROM?»
DER SPAZIERGANG
Die Dame an der Rezeption hatte uns gewarnt. «Ich würde euch dringend empfehlen, den Wagen zu nehmen. Der Supermarkt ist
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