Mit 80 000 Fragen um die Welt
Bild.
Ich darf den Klinikchef interviewen. Er sitzt – wie könnte es anders sein? – eingerahmt zwischen großen Che-Guevara-Plakaten und deutlich kleineren Bildern von Castro, Morales und Hugo Chávez. Hinter ihm hängen mindestens zehn goldgerahmte Urkunden und Zertifikate, die dem Oberdoktor allerhöchste Kompetenz bescheinigen. Auf jedem der Dokumente ist das Bild des Che. Der Genosse Oberarzt sagt, er sei ein Mitglied der «kubanischen Brigade», die Evo Morales nach seinem «großen Triumph» ins Land geholt habe.
«Ist Evo der neue Che?»
«Nein, das ist er nicht. Es wird nie jemanden geben, der den Che ersetzen kann. Warum vergleicht man jeden Revolutionär automatisch mit Che Guevara? Weil der Comandante das weltweite Symbol für die Revolution ist. Waren Sie schon mal auf Kuba?»
«Nein, leider noch nicht.»
«In meinem Land gibt es ein Lied, das jedes Kind in der Schule lernt: ‹Wenn du ein Pionier des Sozialismus sein willst, musst du dem Che folgen.› Und egal, wo ein Kubaner ist, er wird immer das Symbol des Che mit sich tragen.»
Der Doktor wirkt angespannt, er hat seine beiden Hände flach auf die Tischfläche geklebt. Vielleicht liegt es daran, dass zwei Genossen im Nebenraum jedes Wort mithören.
«Glauben Sie, dass der Sozialismus siegen wird?»
«Seguro! Ganz sicher. Die Völker dieser Erde verstehen Tag für Tag besser, dass der Sozialismus die beste Staatsform ist. Wer sich um Gesundheit, Erziehung und die sozialen Probleme seines Volkes kümmert, lebt das gerechteste System auf Erden.»
«Und wer kümmert sich um meine Höhenkrankheit?»
«Kauen Sie Koka-Blätter.»
Movimiento Al Socialismo. Ich stehe an einer Straßenecke in La Paz, blicke auf ein Wahlplakat von Evo Morales und kaue Koka-Blätter. Na ja, ich zersetze sie eher in meinen Backentaschen. Man hat mir das so erklärt: Du nimmst zwei, drei Blatt, kaust ein wenig auf ihnen herum und versenkst das Grünzeug mit der Zunge irgendwo zwischen deinen Zähnen und deiner Wange. Das hilft angeblich gegen fast alles: Hunger, Müdigkeit, Kälte und – natürlich – gegen die Symptome der Höhenkrankheit.
Die Bolivianos mischen noch Kalk dazu, das soll verhindern, dass die Blätter abhängig machen. Denn im Koka steckt Kokain, und wir können ja täglich im Fernsehen und in der Werbung beobachten, welche schrecklichen Folgen der Konsum dieser Droge haben kann. Ich nehme keine Drogen, mal abgesehen von Koffein und Malaria-Prophylaxetabletten. Dennoch habe ich keine Lust, den faden Blätternaus Political Correctness noch Kalk beizumengen. Da könnte ich auch gleich in die nächste Hauswand beißen.
Evo Morales hält das mit dem Kokain eh für dummes Zeug. «Dies ist keine Droge, dies ist ein Blatt!», hat er während einer Rede vor der U N-Suchtkommission gerufen und sich dabei eine Portion Koka in die Backen gestopft. Er sei sicher niemals Präsident des großartigen Landes Bolivien geworden, wenn das Kauen von Koka-Blättern irgendwelche negativen Folgen hätte. «Koka ja! Kokain nein!» ist Evos Motto, und so hat der Präsident den Anbau in seinem Land weitgehend legalisiert. Zur «traditionellen Verwendung», wie er beteuert – Koka-Tee, Koka-Zahnpasta, Koka-Shampoo und Koka-Zeremonien. Manche sagen, es gebe in El Alto schon hundert geheime Kokainfabriken.
Ich spucke die Blätter wieder aus und schaue ein weiteres Mal auf das Evo-Plakat. Es zeigt den Revolutionär mit gereckter linker Faust vor dem Titicacasee. Morales trägt Mittelscheitel, eine etwas zu weite schwarze Jacke, darunter ein weißes Hemd. Sein Blick ist zielstrebig, aber sanft. Natürlich hat dieser Mann Charisma, aber an Che Guevara reicht es nicht heran. Evos Eifer allerdings hätte dem Che imponiert.
Gleich zu Beginn seiner Amtszeit hat er Ölfirmen verstaatlicht und Koka-Bauern lukrative Jobs in den Regierungspalästen verschafft. Heute lässt er Bargeld an Kinder und Schwangere verteilen – und «Gutscheine der Würde» an ältere Menschen. Böse Zungen nennen so was populistisch.
Ich möchte mit Evo sprechen, doch dummerweise weilt er gerade auf einem selbst einberufenen «alternativen Klimagipfel» im Cochabamba-Tal, wo er unlängst für weltweites Aufsehen sorgte. Manche glaubten, Evo wolle dieStimmung etwas auflockern, als er verkündete, der Verzehr von Hähnchenfleisch mache schwul. Doch El Presidente meinte es ernst. Die vielen weiblichen Hormone im Geflügel seien der Grund dafür, dass immer mehr Männer einen Mann lieben – schöne Grüße
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